diotimacomunità filosofica femminile

per amore del mondo Numero 1 - 2003

Un altro mondo al mondo

Was wäre wenn?

 Weibliches Begehren und die Stärke des Neuanfangs

 

 

„Noch niemand hat so etwas je versucht“, sagt Trinity in dem Film Matrix (Teil 1) zu Neo, als die beiden angesichts einer total aussichtslosen Situation die Welt retten müssen. Und Neo antwortet: „Genau deshalb wird’s auch funktionieren“.

 

Die Veränderungen, von denen Dorothee gesprochen hat und die wir heute auch „das Ende des Patriarchats“ nennen, haben dazu geführt, dass sich die Frage des persönlichen Handelns für Frauen neu stellt. Und nun? was tun mit all diesen Möglichkeiten? Was tun mit meinem Leben?

 

Ich möchte nun über das sprechen, was vielleicht die Grundlage unseres politischen Handelns sein könnte: über das Begehren und über die Bedeutung des Anfangs, der Möglichkeit, etwas neues zur Welt zu bringen.

 

Dorothee hat in ihrem Vortrag geschildert, wie vieles sich für Frauen verändert hat Dank der Frauenbewegung, und sie hat einige Beispiele genannt für mögliche politische Neubewertungen von alten Selbstverständlichkeiten. Mir kommt die Lage auch manchmal so aussichtslos vor, wie sie für Trinity und Neo in „Matrix“ ist. In solchen Situationen waren mir diese beiden Stichworte, Begehren und Neuanfang, in den letzten Jahren sehr hilfreich. Sie zeigen mir eine Möglichkeit, weiterzumachen, wenn ich kurz davor bin, an der Langweiligkeit und Ignoranz der so genannten „offiziellen“ Möglichkeiten zu verzweifeln.

 

Wenn ich über das Begehren und die Möglichkeit des Neuanfangs spreche, dann sind das Ideen und Begriffe, die ich mit dem Denken der „Italienerinnen“ kennen gelernt habe, und auch bei Hannah Arendt. Dass ich jetzt aber statt sie zu zitieren mit einem Zitat aus Matrix angefangen habe, liegt daran, dass ich mich bei der Vorbereitung für diesen Vortrag gleichzeitig mit Science Fiction beschäftigt habe. Und ich habe dort viele Szenen gefunden, die sehr schön ausdrücken, was ich hier sagen will. Vielleicht ist das kein Zufall. Denn Science Fiction, also das Spielen mit möglichen Zukunften und das Nachdenken über die Möglichkeiten paralleler Welten, hat viel mit all dem zu tun: Es sind Experimente, keine Planspiele.

 

Ausgangspunkt für diesen Tag ist ja die Frage, wie wir neu über gutes Leben nachdenken. Diese Frage stellt sich für Frauen heute, am Ende des Patriarchats, anders als früher. Denn je mehr Möglichkeiten ich habe, etwas zu tun, desto mehr Entscheidungen muss ich treffen. Für eine Frau, die im Patriarchat lebt, gibt es einen vorgegebenen Lebensweg. Für meine Mutter zum Beispiel, sie ist 1939 geboren, war es so, dass ihr Lebensweg, mit leichten Variationen klar vor ihr lag, und zwar nicht nur wegen der äußeren Umstände, sondern auch weil sie sich selbst nichts anderes vorstellen konnte: Es war für sie klar, dass sie heiraten würde, Kinder bekommen würde, und dass es ihre Aufgabe wäre, diese Kinder zu erziehen und ansonsten ihren Mann zu unterstützen. Zwischen der Jugend meiner Mutter und meiner eigenen lag die Frauenbewegung, dazwischen lag die große Veränderung, von der Dorothee gesprochen hat. Eine Veränderung, die den Fokus verschoben hat, vor dem Frauen die Entscheidungen ihres Lebens treffen.

 

Vorher, „im Patriarchat“ oder auch „vor der Frauenbewegung“, gab es für sie nur zwei Möglichkeiten: dem vorgegebenen Pfad der Rollenerwartungen zu folgen, oder ihn zu durchbrechen. Heute stellt sich die Frage nach dem Lebensweg einer Frau nicht mehr so. Alle müssen sich entscheiden, nicht nur die, die aufmüpfig sind und sich den Rollenmustern nicht beugen wollen. Meine Schwester zum Beispiel lebt ein Leben, das man früher als konventionell bezeichnet hätte: Sie hat einen Beruf gelernt, geheiratet, den Beruf erstmal aufgegeben, als sie Kinder bekam. Aber anders als bei meiner Mutter, für die das selbstverständlich war, war das bei meiner Schwester eine bewusste Entscheidung, für die sie keineswegs nur Applaus bekommt, sondern auch kritische Nachfragen, zum Beispiel von mir. Sie muss die Entscheidung für ihren Lebensweg genauso begründen und rechtfertigen wie ich die meine.

 

Wir können, wir müssen heute sogar jederzeit neu entscheiden. Nicht nur, ob wir heiraten und wen. Sondern das geht ja später weiter: Ob wir Kinder bekommen oder nicht. Eine Entscheidung, die wir übrigens auch dann treffen müssen, wenn wir nicht verheiratet sind. Ob wir diese Arbeitsstelle annehmen oder eine andere. Ob wir voll arbeiten möchten, oder Teilzeit. Lauter offene Fragen, lauter Entscheidungen darüber, wie unsere Biografie verlaufen soll. Aus Dorothees Vortrag ist auch deutlich geworden, dass das keine individuelle Frage ist, sondern eine politische. Denn das, was wir tun, wie wir uns entscheiden und wie wir handeln, das wirkt sich auf die Welt aus, in der wir leben.

 

Was aber heißt Leben?

 

Auf dem Planeten Gethen, am Rande unserer Galaxis, gibt es Wahrsager bzw. Wahrsagerinnen bzw. beides – denn die Menschen auf Gethen haben kein Geschlecht – die, für einen stolzen Preis Fragen über die Zukunft beantworten können. In Wahrheit jedoch haben sie eine Religion, die das Unwissen feiert. Warum, das erklärt eine/einer von ihnen names Faxe dem Besucher Genry vom Planeten Erde so: „Das Leben“, erklang Faxes weiche Stimme, „basiert auf dem Unbekannten, dem Unvorhergesehenen, dem Unbewiesenen. Unwissen ist die Grundlage allen Denkens. Unbewiesenheit ist die Voraussetzung der Tat. Wenn es bewiesen wäre, dass es keinen Gott gibt, dann gäbe es auch keine Religion. Doch wenn es wiederum bewiesen wäre, dass es einen Gott gibt, dann gäbe es ebenfalls keine Religion… Sagen Sie mir, Genry: Was ist bekannt? Was ist gewiss, vorhersagbar, unvermeidbar … die einzige Tatsache, die Ihre Zukunft – und die meine – betrifft, und die wir mit Bestimmtheit wissen?“ – „Dass wir sterben müssen.“ –  „Sehen Sie? Es gibt also in Wirklichkeit nur eine einzige Frage, die beantwortet werden kann, Genry, und die Antwort darauf kennen wir bereits … Das einzige, was das Leben überhaupt ermöglicht, ist die ständige, unerträgliche Ungewissheit: ist, nicht zu wissen, was als nächstes geschieht“.

 

Diese Passage aus dem Roman “Winterplanet” von Ursula K. Le Guin, einem Science Fiction-Roman aus dem Jahr 1967, habe ich vorgelesen, weil mir daran kürzlich etwas aufgegangen ist. Nämlich dass diese eigentlich ja banale Einsicht, dass nämlich die Zukunft offen ist und ungewiss, heute allzu oft ignoriert wird. Ich habe manchmal den Eindruck, dass uns die Grundlage dafür verloren gegangen ist, wie wir handeln, warum wir überhaupt handeln, was der Sinn des Ganzen ist. Stattdessen ist viel von Mitteln und Techniken die Rede, wie wir etwas erreichen können. Dazu gibt es eine Flut von Ratgeberbüchern und Kursen, die uns die Illusion vermitteln, wir hätten alles im Griff, oder das wäre zumindest weitgehend möglich. Oder aber: Es wird so getan, als sei es das Wichtigste an einer politischen Handlung, möglichst genau vorauszuberechnen, wohin sie führen wird. Denken Sie nur an die derzeitige Finanzpolitik in Deutschland. Da kommen immer schlimmer werdende Prognosen über Steuereinbrüche und konjunkturelle Krisen, was dazu führt, dass letztlich gar nichts mehr getan wird. Aus lauter Angst vor den angeblichen Folgen kann man sich nur noch auf Dinge einigen, zu denen kein Widerspruch zu erwarten ist, wie die Erhöhung der Tabaksteuer. Dabei werden die angeblich objektiven Zukunftsprognosen alle paar Wochen wieder korrigiert. Auch das derzeit sehr in Mode gekommene Gender Mainstreaming ist für mich ein Beispiel für so ein Herangehen. Also diese EU-Richtlinie, wonach alle öffentlichen Entscheidungen daraufhin überprüft werden müssen, was sie jeweils für Folgen für Männer und Frauen haben. Hier wird die Folgenabschätzung also gerade zum Prinzip erklärt.

 

Ich glaube, das geht an der eigentlich wichtigen Frage vorbei: Was tun angesichts der Tatsache, dass Leben gerade heißt, nicht zu wissen, was als nächstes geschieht? Das Unwissen zu schätzen, diese Offenheit der Zukunft, die sich nicht vorausplanen lässt?

 

Vor einiger Zeit nahm ich an einem Informationsabend über NLP teil – „Neuro-Linguistisches Programmieren“, eine inzwischen recht verbreitete Methode, die eigene Kommunikation mit anderen zu verbessern – vermutlich haben Sie schon einmal davon gehört. Der Kursleiter hatte eine Liste mit “Grundannahmen” des NLP aufgehängt, und da stand unter anderem der Satz: “Alle Ressourcen für eine notwendige Veränderung liegen in dir selbst”. Ich fragte ihn, ob das denn ernst gemeint sei, denn man könne doch unmöglich alles aus eigener Kraft erreichen. Und er gab zu, dass dieser Satz in der Tat missverständlich sei. Deshalb würde er seine Klienten immer darauf hinweisen, dass sie sich realistische Ziele setzen müssen, also solche, die sie auch mit den eigenen Ressourcen und Möglichkeiten erreichen können. Als ich ihn fragte, was ich denn tun soll, wenn ich gar nicht weiß, was meine Ziele sind, schaute er mich ziemlich verständnislos an und schien diese Frage für sehr merkwürdig zu halten.

 

Die herkömmlichen Methoden und Strategien, mit denen wir gewohnt sind zu planen und Entscheidungen zu treffen, und für die NLP nur ein Beispiel ist, bilden einen geschlossenen Kreis, in den nichts Neues hinein kommen kann. Sie glauben nicht daran, dass etwas funktionieren kann, gerade weil es noch niemand probiert hat. Stattdessen arbeiten sie an immer ausgefeilteren Prognosen, Hochrechnungen, die sie in die Hand von so genannten Experten geben, die dann darüber entscheiden sollen, ob etwas Aussicht auf Erfolg hat. Sie gehen von fertigen Zielen aus – mehr Geld, Wahlen gewinnen, ein besserer Job, oder etwas in der Art, aber auch: Saddam Hussein aus dem Amt jagen, höhere Lohnabschlüsse, den eigenen Gesetzentwurf durchbringen – wobei ein wichtiger Punkt eben ist, ob diese Ziele „realistisch“ sind. Und dann üben sie Techniken ein, wie man zu diesen realistischen Zielen kommt: Also entweder eine neue Kommunikationsmethode oder politische Strategien, Kungeleien und Absprachen, im schlimmsten Fall eben ein Krieg. Und je genauer man das Ziel vorher schon eingrenzen kann, für desto „realistischer“ gilt es. Was aber können wir tun, wenn unsere Ziele alles andere als klar sind? Weder die persönlichen, noch die gesellschaftlichen oder politischen?

 

In „Matrix“ gibt es eine Szene, in der ein kleines Kind einen Löffel in der Hand hält, der sich wie durch Zauberkraft verbiegt. Neo schaut ihm etwas verblüfft zu, und das Kind erklärt ihm, wie es geht: „Versuch nicht, den Löffel zu verbiegen, das ist nämlich nicht möglich. Versuch, dir stattdessen einfach die Wahrheit vorzustellen. Den Löffel gibt es nicht. Dann wirst du sehen, dass nicht der Löffel sich biegt, sondern du selbst.“ – Diese Szene spiele ich mir manchmal in Alltagssituationen vor. Zum Beispiel, wenn einen Kirchenpräsidenten interviewen muss und über seine vorgestanzten, langweiligen, vorhersehbaren Sätze schier verzweifle. Versuch nicht, dem Kirchenpräsidenten interessante Antworten zu entlocken, sage ich mir dann. Das ist nämlich nicht möglich. Versuche dir stattdessen, die Wahrheit vorzustellen: Den Kirchenpräsidenten gibt es nicht“. Natürlich leben wir nicht in einer Matrix, also in einer von Computer geschaffenen, künstlichen Welt und müssen dahinter die reale Welt entdecken, wie es die Filmhelden tun. Aber wir sehen die Welt eben im Rahmen einer symbolischen Ordnung, die zum Beispiel festlegt, wie Kirchenpräsidenten sind und was sie zu tun haben. Und so verhalten sie sich auch, und so verhalte ich mich auch als Journalistin, die ihn befragt. Die Wahrheit ist aber: Den Kirchenpräsidenten, dieses symbolische Konstrukt also, gibt es nicht. Sondern es gibt nur die Situation, die darin beteiligten Menschen, in diesem Fall: ihn und mich. Und manchmal gelingt dann doch ein interessantes Interview. Nicht, weil der Kirchenpräsident sich biegt, sondern weil ich selbst eine andere Haltung einnehme.

 

Um diese Möglichkeit, mich selbst zu verändern, mich auf das Spiel mit der Realität einzulassen, die aus Löffeln, Kirchenpräsidenten und sehr viel schlimmerem besteht, zu verstehen, ist für mich persönlich das Wort „Begehren“ zu einem Schlüsselbegriff geworden ist, seit ich es von den Italienerinnen das erste Mal hörte. Vielleicht hat es mich deshalb so fasziniert, weil es im Deutschen ja ein etwas altertümliches Wort ist, ein Wort, das wir nicht oft benutzen, schon gar nicht, wenn es um politische Themen geht. Begehren, das klingt nach Sexualität, nach etwas Intimem, Privatem. Wenn es um die gesellschaftliche Frage geht, was in Zukunft aus dieser Welt werden soll, reden wir normalerweise nicht von dem, was wir begehren, sondern von dem, was wir wollen, oder fordern.  Es war für mich eine verblüffende Erkenntnis, dass das Begehren eine politische Bedeutung haben könnte, dass es sich auf die ganze Welt richtet. Ich hatte bis dahin auch gedacht, ich könnte in der Welt vor allem so aktiv werden, dass ich Forderungen stellte, nach besseren Gesetzen, mehr Frauenquoten, was weiß ich. Das Wort „Begehren“ öffnete mir neue Denkmöglichkeiten. Ich konnte damit etwas ausdrücken, wofür ich bis dahin keine Worte hatte.

 

Vom Begehren zu sprechen, das lenkt die Aufmerksamkeit weg von dem, was mir fehlt, von dem, was ich in Zukunft einmal haben will (zum Beispiel einen interessanteren Kirchenpräsidenten), hin auf das, was ich habe, auf das Begehren nämlich, das am Anfang steht und mich motiviert, etwas zu tun (zum Beispiel, den Menschen, der da vorgibt, ein Kirchenpräsident zu sein, anders zu sehen, mich auf ihn einzulassen, mit ihm wirklich ein Gespräch zu versuchen). Wenn ich etwas fordere, dann steht das Ziel bereits fest: Mein Ziel ist das, was ich fordere, zu bekommen. Das Begehren dagegen ist nicht so festgelegt. Es ist noch nicht klar, wodurch es befriedigt werden könnte, es ist offen für das, was da kommen mag, ohne es bereits zu kennen. Das Begehren öffnet Wege für das Unvorhergesehene. Deshalb ist es für mich auch eine Antwort darauf, dass Leben heißt: Nicht zu wissen, was als nächstes geschieht. Es ist eine andere Perspektive auf die selbe Sache. Und mit dieser Wendung schaue ich noch einmal auf die Politik.

 

Die „Emanzipation“ der Frauen, also ihre Gleichstellung mit den Männern, war zum Beispiel so ein „realistisches“ Ziel, das der NLP-Trainer aus meinem Beispiel vermutlich akzeptiert hätte. Die Verwirklichung dieses Ziels, seine Umsetzung, war vorhersehbar. Aber Emanzipation, die Gleichstellung mit den Männern, war nie das hauptsächliche Anliegen der Frauenbewegung. Das Begehren der Frauen ging und geht weit darüber hinaus. Was sie begehren ist Freiheit, weibliche Freiheit und eine gute Welt, ein schönes Leben. Wobei sie selbst nicht genau wissen, was damit gemeint ist, weil niemand das wissen kann. Aber das heißt eben nicht, dass man es nicht begehren kann.

 

Wenn ich die Nachrichten höre, die Welt anschaue und eine Bilanz ziehe von dreißig Jahren Frauenbewegung, dann fällt diese Bilanz für mich zwiespältig aus: Auf der einen Seite gibt es allen Grund, sich zu freuen. Was die „Lage der Frauen“ betrifft, wie man so schön sagt, hat sich sehr vieles zum Besseren verändert. Kaum eine soziale Bewegung hat unsere Gesellschaft so gründlich verändert, wie die Frauenbewegung. Auch wenn man manches beklagen mag, auch wenn noch längst nicht alles optimal geregelt ist, so muss man doch sagen: Wir haben allen Grund, uns zu freuen. Und, wie Dorothee sagt, dankbar zu sein den Vorkämpferinnen von damals, die Mut gezeigt haben, den wir Jüngeren uns gar nicht mehr vorstellen können, denn wir haben uns an die neue Situation, an die Zeit „nach dem Feminismus“, bereits gewöhnt.

 

Aber meine Bilanz hat noch eine andere Seite. Kaum jemand wird bestreiten, dass die gegenwärtige Situation der Politik und der Wirtschaft desolat ist, und zwar in Deutschland genauso wie in Italien und weltweit. Die überlieferten Mechanismen der Politik, ihre Rituale, die Strategie- und Planspiele sind lähmend, und wir wissen: So bekommen wir die Probleme ganz bestimmt nicht in den Griff. Natürlich gibt es überall Menschen, vor allem Frauen, aber auch Männer, die versuchen, etwas besser zu machen, im Privatleben, im Beruf, in öffentlichen Institutionen, in der Wirtschaft. Aber sie stoßen immer wieder auf Bürokratien, Hierarchien, eingeschliffene Abläufe, die ihnen die Lust dazu nehmen, sich zu engagieren. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich finde es unendlich langweilig, die Zeitungen zu lesen oder die Nachrichten im Fernsehen zu schauen. Alles scheint so vorhersehbar, da ist kaum mal etwas Echtes, alles nur Strategie und Taktik.

 

Eine Folge davon ist, dass viele Frauen – inzwischen auch Männer, aber besonders Frauen – keine Lust haben, dort noch mitzumachen. Sie verzichten auf Chefsessel und hohe Posten, weil sie den Eindruck haben, dort nicht mehr authentisch handeln zu können, am Ende vielleicht sogar selbst „so“ zu werden. Sie sind resigniert, entmutigt, wollen nicht mehr dagegen anrennen, weil es ja doch nichts nützt. Dass das fatal ist für unsere politischen Institutionen, für die Wirtschaft und für unsere Gesellschaft, liegt auf der Hand.

 

Vom eigenen Begehren auszugehen, kann vielleicht helfen, einen Standpunkt einzunehmen, von dem aus wir dennoch aktiv werden und handeln können, mir geht es jedenfalls so. Denn das Begehren hat keine fertigen Ziele im Kopf. Und es scheut sich auch nicht, zuzugeben, dass es ohne die Hilfe von anderen nicht erfüllt werden kann. Anstatt nach Methoden und Werkzeugen zu suchen, um irgend etwas Vorgegebenes zu erreichen, weckt das Begehren erst einmal die Notwendigkeit, sich über die eigenen Ziele Gedanken zu machen. Und alles ist erlaubt, auch das scheinbar Unmögliche, das Unrealistische, auch das, was wir sowieso nicht erreichen können, nach herkömmlichen Maßstäben, logisch gedacht. Aber nicht indem wir in Allmachtsphantasien verfallen nach dem Motto: Wir können Löffel verbiegen. Das können wir nicht.

 

Das heißt: Es geht nicht um Utopien. Diesen Unterschied hat Ursula Le Guin, die sich ja als Science-Fiction-Autorin quasi per Definition mit Zukunftswelten beschäftigt, gut herausgearbeitet. Die utopische Literatur hat ja einen wichtigen Platz in der herkömmlichen politischen Ideengeschichte, seit Platon gab es viele politische Denker, die quasi am grünen Tisch ideale Gesellschaften entworfen haben, den idealen Staat, was auch immer. Genauso geht Ursula K. Le Guin aber nicht vor, wenn sie sich einen neuen Science-Fiction-Roman ausdenkt. Sondern sie stellt spielerisch die Frage: Was wäre wenn? Zum Beispiel: was wäre, wenn die Menschen kein Geschlecht hätten, sondern alle Neutren wären? oder: Was wäre, wenn Computer Gefühle hätten? Sie entwirft also keine komplette, in sich stimmige Welt, sondern sie überlegt sich den Anfang für ein Gedanken-Experiment. Und probiert dann schreibend aus, was für eine Geschichte sich daraus entwickelt. Das hat mich sehr an das Begehren erinnert. Auch dieses Begehren setzt nämlich einmal einen Anfang: Was wäre wenn?

 

Der Anfang von etwas Neuem ist immer eine kleine Sache. Das Neue beginnt nicht mit großen Armeen oder mit Mehrheiten in Parlamenten oder einer großen Werbekampagne. Sondern klein, als Handeln einer oder eines Einzelnen, die einfach damit anfängt. Genau dies hat die Ökumene der bewohnten Planeten in dem Buch von Ursula Le Guin sich zu ihrem politischen Prinzip gemacht. Ihre Gesandten, die zu neu entdeckten Planeten reisen, um dort für eine Kooperation zu werben, müssen immer alleine gehen. Das kann für diese Gesandten natürlich gefährlich werden, und damit müssen sie allerhand Abenteuer bestehen. Der Gesandte , der als erster den Planeten Gethen besucht, und in Gefahr schwebt, erklärt einem einheimischen Freund/einer Freundin diese Regel so:

 

„Ich dachte immer, es wäre euretwegen, dass ich allein kommen musste – so offensichtlich allein, so ungeschützt, dass ich persönlich keine Gefahr darstellen, kein Gleichgewicht stören konnte: nicht eine Invasion, sondern einfach ein Botenjunge. Aber nein, es steckt mehr dahinter. Bin ich allein, kann ich eure Welt nicht verändern, kann aber von ihr verändert werden. Bin ich allein, muss ich auch zuhören, und nicht nur sprechen. Bin ich allein, ist der Kontakt, den ich herstelle – falls ich überhaupt einen herstelle –, weder unpersönlich noch ausschließlich politischer Natur: Er ist individuell, er ist persönlich, er ist gleichzeitig mehr und weniger als politisch. Nicht Wir und Sie; nicht Ich und Es; sondern Ich und Du. Nicht politisch, nicht pragmatisch, sondern mystisch. In gewissem Sinne ist die Ökumene der bewohnten Planeten keine politische Körperschaft, sondern eine mystische Körperschaft. Sie hält jeden Anfang für ungeheuer wichtig. Den Anfang und die Mittel. Ihre Doktrin ist genau das Gegenteil der Doktrin, dass der Zweck die Mittel heilige“.

 

Ich dachte, als ich diese Passage gelesen habe: Genauso ist es, wenn eine Frau etwas begehrt. Sie muss alleine Kontakt aufnehmen zu einer Welt, in der dieses Begehren noch nicht verstanden wird. Sie hat keine fertigen Pläne für die Zukunft im Kopf, sondern sie fängt einfach an, sie sucht ein Du, dem sie zuhören kann. Sie hat keine Mittel, mit denen sie ihren Zweck, welcher auch immer das sein mag, erreichen kann: Sie hat keine Waffen, keine Mehrheit im Parlament, keine Medienmacht. Sie hat nur sich selbst und ihr Begehren, das sie aktiv werden lässt. Ihre Vorgehensweise ist es, einen Anfang zu machen, sie selbst ist also das Mittel, und deshalb kann das Mittel auch niemals einem Zweck untergeordnet werden. Diejenigen von Ihnen, die gerne Biografien lesen, werden das vielleicht bestätigen können: Ich denke zum Beispiel an Dorothea Erxleben, die erste deutsche Ärztin. Sie hatte sich nicht vorgenommen, als erste Frau Akademikerin zu werden, sondern sie fing einfach an, Kranke zu behandeln. Oder Victoria Woodhull, die sich im Jahr 1872 als Präsidentschaftskandidatin der USA aufstellen ließ. Sicher nicht, weil sie sich das realistische Ziel gesetzt hatte, gewählt zu werden, 50 Jahre vor Einführung des Frauenwahlrechts. Sondern weil sie wissen wollte: Was wäre, wenn? Was passiert, wenn ich es einfach mal probiere?

 

Hätten diese Frauen „vom Ende her“ gedacht, also von ihren Zielen her, wären sie vermutlich gescheitert. Sie hätten sich verkämpft, verrannt und schließlich verloren oder resigniert. Aber sie dachten vom Anfang her: von ihrem Begehren, das sie motivierte, einen neuen Weg zu gehen, einen neuen Anfang zu machen, und offen zu sein, für das, was daraus folgt, ohne es alleine in der Hand haben zu wollen, ohne es kontrollieren zu können.

 

Es sind nicht immer nur berühmte, besondere Frauen, die uns ein Beispiel für weibliches Begehren und die daraus resultierende Stärke geben. Und es sind auch nicht unbedingt die großen, spektakulären Dinge, um die es dabei geht. Vor einigen Tagen war ich zusammen mit einer Freundin essen, die ich lange nicht gesehen hatte. Sie lebt schon seit einigen Jahren in einer recht schwierigen Lebenssituation, als selbstständige Kleinunternehmerin (und das in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten), als Mutter zweier Kinder, und verheiratet mit einem Afrikaner, mit dem die Ehe sich kulturell wie persönlich als sehr schwierig darstellte: Zum Beispiel ging er lange Zeit nicht arbeiten, zeigte wenig Verantwortungsgefühl, auch in finanzieller Hinsicht usw. Meine Freundin hatte, wie ich aus früheren Begegnungen weiß, lange unter all dem Druck gelitten und war in dauernde Kämpfe verwickelt: Mit ihrem Mann stritt sie jeden Tag darüber, dass er im Haushalt hilft, dass er sie entlastet, dass er mehr Verantwortung für die Kinder übernimmt usw. Ich denke, viele von Ihnen kennen diese zermürbenden Beziehungskämpfe, in diesem Fall liefen sie vielleicht nur etwas krasser ab wegen der kulturellen Unterschiede. Dazu kam für meine Freundin noch der Druck von außen: Ihre Mutter, ihre „feministischen“ Freundinnen, viele Leute kritisierten sie dafür, dass sie in dieser Beziehung drin blieb, forderten sie auf, auszubrechen, ihren Mann zu verlassen.

 

Einige Jahre lang verkämpfte sie sich so an zwei Fronten: Einerseits hatte sie die ständigen Auseinandersetzungen mit ihrem Mann, andererseits musste sie sich ihrer Umgebung gegenüber für ihre Lebenssituation auch noch rechtfertigen. Als ich sie neulich jedoch traf, war sie völlig anders: Ruhig, sie strahlte Zufriedenheit und Stärke aus. Irgendetwas hatte sich verändert, und sie selbst stellte es so dar: An einem gewissen Punkt, so sagte sie, erinnerte sie sich an ihr altes Begehren, das sie bewogen hatte, diesen Mann zu heiraten. Sie hatten doch einmal gesagt: Wir heiraten, weil wir uns lieben und weil wir zusammen leben wollen. Aber im Lauf der Jahre war, zumindest bei ihr, dieser Gedanke in den Hintergrund gerückt: Und es hatte sich für sie eine Zeitlang so dargestellt, als hätte sie nur die Wahl: Entweder so schlecht und recht mit ihm zusammen zu  bleiben, oder ihn zu verlassen.

Aber das war es nicht, was sie begehrte. Sie wollte mit ihm zusammen sein und ihn lieben. „An einem bestimmten Punkt hat es mir gereicht“, so waren ihre Worte, „ich wollte nicht immer nur gegen Widerstände anrennen und kämpfen, ich wollte auch ein schönes Leben führen“. Sie begehrte also, und zwar etwas, das – allem Anschein nach – unmöglich war. Und diesem Begehren ist sie gefolgt. Sie verweigerte Diskussionen mit Freundinnen, die sie dazu überreden wollten, diesen Mann zu verlassen, denn das war es nicht, was sie begehrte. Und sie verweigerte sich den häuslichen Scheingefechten über Prinzipienfragen, sondern konzentrierte sich auf die Verhandlungen über die Dinge, die ihr in der Ehe wirklich wichtig waren. Und das hat eine Veränderung bewirkt – langsam und nicht ohne Enttäuschungen, aber ihr Leben hat sich verändert. Ihre Selbstwahrnehmung hat sich verändert, sie hat die Situation neu beurteilt und ein neues Verhältnis dazu eingenommen. Und irgendwann hat sich auch der Mann verändert, die Mutter, die Freundinnen. Indem sie ihren eigenen Standpunkt verändert hat, haben sich auch ihre Beziehungen und damit die ganze Situation verändert.

 

Daran musste ich denken, als Ursula Le Guin, einen ihrer Romanhelden sagen lässt: „Gegen etwas opponieren, bedeutet, es zu erhalten. Man sagt hier: „Alle Wege führen nach Mishnory“. (Mishnory ist die Hauptstadt eines tyrannischen Staates). Doch wenn man Mishnory den Rücken kehrt und es verlässt, ist man ganz eindeutig immer noch auf dem Weg nach Mishnory. Nein, man muss woanders hingehen; man muss sich ein anderes Ziel setzen. Dann beschreitet man einen anderen Weg.“ (S. 137)

 

Im Begehren den Motor für Veränderung zu sehen, und nicht in den Zielen, die man sich setzt, das bedeutet ein radikales Umdenken. Es bewirkt eine neue Sicht auf die Welt. Nicht mehr vom Ende her zu denken, also von dem optimalen Zustand, den ich mir ausdenke, wie es sein sollte, sondern vom Anfang her zu denken, von dem Begehren, das ich in mir spüre. Nicht von dem auszugehen, was mir fehlt, sondern von dem, was ich habe: Mein eigenes Begehren, das mir Stärke und Energie gibt. Weil es mich offen macht, für Unvorhergesehenes, weil ich mich nicht mehr an allen möglichen Fronten verkämpfe, weil es mir nicht mehr ums Prinzip geht, sondern ich mich auf das konzentriere, was mir wichtig ist.

 

Deshalb gibt es auch wichtige Unterschiede zwischen dem Begehren und dem Wollen und Fordern, also den üblichen Begriffen, in denen in der Politik oder in unserer Philosophiegeschichte ausgedrückt wurde, was Menschen dazu veranlasst, etwas zu tun, zu handeln.

 

Das Begehren ist untrennbar an eine bestimmte Person verbunden, es ist etwas Individuelles. Ich begehre, du begehrst, es gibt kein abstraktes Begehren oder das Begehren an sich. Es gibt auch kein Begehren der Frauen. Weibliches Begehren ist nicht so zu verstehen, dass man daraus konkrete inhaltliche Forderungen für eine Frauenpolitik ableiten könnte. Weibliches Begehren ist immer das Begehren einer bestimmten Frau, und es ist weiblich, nicht weil es dieses oder das zum Inhalt, zum Ziel hat, sondern weil es eine Frau ist, die begehrt. Weibliches Begehren sage ich, weil es Frauen waren, von denen ich viel über das Begehren gelernt habe – es schließt keineswegs aus, dass es auch ein männliches Begehren gibt.

 

Die herkömmliche Philosophie hat zwei Gründe unterschieden, warum ein Mensch tut was er tut: Den Willen und den Trieb. Das Begehren ist aber etwas anderes als die beiden. Anders als der Wille hat es seine Ursache nicht in der Vernunft oder dem Verstand – ich glaube, jede von ihnen kennt Situationen, in denen das Begehren im Widerstreit mit der Vernunft liegt. Das Begehren ist aber auch nicht zu verwechseln mit dem Trieb oder mit der Lust. Trieb und Lust lassen sich nämlich nicht reflektieren und mit anderen diskutieren, sondern höchstens zulassen oder bekämpfen. Sie können nicht Gegenstand von Verhandlungen sein, das Begehren aber schon. Ich kann über mein Begehren mit anderen verhandeln.

 

Das Begehren ist zwar untrennbar mit einer Person verbunden und damit individuell, es bezieht sich aber immer auf die Realität, auf die Welt also. Denn es verweist auf etwas, das fehlt, oder das Unzureichend ist, „wünschenswert“ oder eben wert, begehrt zu werden. Begehren ist immer das Begehren, in der Welt etwas zu verändern, dort einen Mangel auszugleichen, das Fehlende aufzufüllen – wohlgemerkt: Es geht nicht um etwas, was den Frauen fehlt, sondern um etwas, das der Welt fehlt. Das ist ein wichtiger Unterschied!

 

Dieser Mangel, das Unzureichende in der Welt, ist jedoch im Bezug auf das Begehren nicht etwas, das sich objektiv feststellen ließe, so wie sozialistische oder andere politische Ideen und Theorien ein falsches Funktionieren irgend eines gesellschaftlichen Systems herleiten oder beweisen, indem sie angeblich objektive Mängel nachweisen durch Zahlen und Statistiken. Sondern der Mangel wird nur zum Mangel, zum Desiderat, weil das Begehren darauf hinweist, indem es nämlich etwas anderes begehrt. Es geht also nicht um richtig und falsch oder um Moral, sondern um ein Wechselspiel zwischen dem individuellen Begehren und der Welt, so wie sie derzeit ist.

 

An einem konkreten Beispiel gesagt: Dass früher Frauen nicht wählen durften, war so lange kein Mangel in der Realität, bis Frauen das Begehren verspürten, wählen zu gehen. Es gibt keine äußere, allgemeingültige Norm dafür, wie die Welt zu sein hat. Ihre Defizite entstehen nicht an und für sich, sondern erst dadurch, dass sie auf ein Begehren stoßen, das diese Defizite sieht und dann anfängt, zu handeln.

 

Das Aufeinandertreffen von Begehren und Realität findet niemals ohne die Vermittlung durch andere Menschen statt, das heißt, es geht dabei immer in erster Linie um eine Beziehung. Zum Beispiel kann ich mir vielleicht wünschen, dass es morgen nicht regnen soll, aber ich kann schönes Wetter nicht begehren. Das ist das Wahre daran, dass wir im Deutschen dieses Wort schnell mit einer sexuellen Konnotation hören: Ich richte mein Begehren niemals an die Realität als solche, sondern immer an einen anderen Menschen – ein gutes Beispiel ist das Begehren kleiner Kinder, das immer an die Mutter oder eine ihrer Ersatzpersonen gerichtet ist. Sie begehren zwar die Milch, aber ihr Schreien richtet sich nicht an die Milch, sondern an die Mutter. Denn schon die kleinen Kinder wissen, vielleicht besser als die Erwachsenen, dass sich das Begehren nur durch Verhandlungen mit anderen erfüllt: Nur so kann es befriedigt werden.

 

Auch das unterscheidet das Begehren sowohl vom Willen als auch vom Trieb: Der subjektive Wille und der unreflektierte Trieb können beide auch ohne andere bzw. sogar gegen andere befriedigt werden, etwa durch den Einsatz von Geld oder durch Gewalt. Das Begehren dagegen verlangt nach einem Austausch, der von beiden Seiten freiwillig geführt wird, sonst ist das Begehren nicht befriedigt.

 

Dieser Punkt führt uns zum Anfang zurück, nämlich zu der Frage: Woher kommt mein Begehren? Warum begehre ich überhaupt, und warum ausgerechnet das oder das? Wenn die Ursache nicht in meinen körperlichen Trieben und auch nicht im Willen meiner Vernunft liegt, aber auch nicht in den Normen und Werten der Umwelt und aus ihrem Einfluss auf uns, dann bleibt nur das, was wir normalerweise mit religiösen Begriffen beschreiben: Transzendenz, das Jenseitige, Gott.

 

In der Psychoanalyse sind die Prägungen von außen mit dem Über-Ich, die Vernunft mit dem Ich und die Triebe mit dem Es verbunden. Um deutlich zu machen, dass es darüber hinaus noch einen weiteren Anteil im Menschen gibt, der nichts von all dem ist, gefällt mir besonders gut der Begriff der Seele, den Chiara Zamboni im Zusammenhang mit dem Begehren wieder eingeführt hat: Die Seele, quasi als Sinnesorgan, das auf den Einbruch des Transzendenten reagiert, indem sie bemerkt, wenn ein Begehren geweckt wurde.

 

Die Werte und Normen des Über-Ich auf der einen und unsere Triebstrukturen auf der anderen Seite bringen uns dazu, etwas zu müssen. Unsere Vernunft, unser Ich, bringt uns dazu, etwas zu wollen. Aber unsere Seele bringt uns dazu, etwas zu begehren. Dieses Transzendente, das das Begehren weckt, kann man natürlich auch in anderen, nicht-religiösen Bildern beschreiben, zum Beispiel, wie Dorothee Markert es gemacht hat, als etwas, das 100-prozentig passt. Es geht um Qualität, die Erfahrung einer hundertprozentigen, nicht einer relativen Qualität ist es, von dem das Begehren geweckt wird. Das kann alles mögliche sein, die Lektüre eines guten Buches, oder ein anregendes Gespräch, ein schönes Konzert, irgend eine Situation oder ein Augenblick, wo alles zusammenpasst, wo „Qualität“ da ist. Es sind Momente der Qualität, die nicht vorhersehbar waren, die man auch nicht arrangieren kann, sondern die sich ereignen, und die zwangsläufig auch wieder vorbei gehen. So ähnlich wie die Liebe vielleicht, die nach Hannah Arendt ja auch kein Gefühl ist, sondern ein Ereignis. Genau wie die Liebe muss sich das Begehren „ereignen“, man kann es nicht „machen“ oder herbeizwingen – das ist der Moment der Transzendenz dabei.

 

Das Begehren ist also, so könnte man sagen, diejenige Kraft, die eine Verbindung herstellt zwischen uns als Individuum, der Welt, so wie sie ist, den Menschen, mit denen wir in Beziehungen stehen, und dem Transzendenten.

 

Und genau darin, diesem Begehren dann zu folgen, liegt notwendigerweise der Kern zu etwas Neuem. Warum? Der Grund ist eben, dass solche Momente der Qualität nicht durch Wiederholung hergestellt werden können. Wenn ich einmal in einer bestimmten Situation Qualität erfahren habe, nützt es nichts, zwei Wochen später diese Situation zu wiederholen, denn so wird sich die Qualität nicht einstellen. Das haben Sie sicher alle selbst schon einmal erlebt: Da war ein schöner Abend, ein schöner Urlaub, ein wunderbares Gespräch, und dann versucht man, dasselbe noch einmal zu wiederholen, man fährt noch einmal an denselben Urlaubsort, trifft sich noch einmal mit derselben Person, und dann mag es zwar immer noch schön gewesen sein, aber es hat höchstwahrscheinlich nicht die Qualität des ersten Mals.

Das Begehren ist sozusagen gleichzeitig rückwärtsgewandt (angetrieben durch die Erinnerung an erlebte Momente der Qualität, an die Sehnsucht nach einer bestimmten Person, einem bestimmten Erleben) und doch radikal vorwärts gewandt, denn es kann nicht durch Wiederholung befriedigt werden, sondern nur durch den Anfang von etwas Neuem, von etwas, von dem ich noch nicht weiß, wohin es führt. Dem Begehren zu folgen ist ein Experiment, das nie zu Ende geht.

 

Natürlich ist das nicht einfach. Zumal wir gerade in unserer heutigen Leistungsgesellschaft meist dazu gedrängt werden, das Begehren klein zu halten, denn nur so können wir „vernünftig“ funktionieren. „Keine Experimente“ ist ein politischer Slogan, der in jedem Wahlkampf gut funktioniert. Wer wollte nicht erfolgreich sein, beliebt bei den Kolleginnen, gelobt vom Chef, wer hätte nicht Angst davor, soziale Anerkennung, aber auch Einkommen und mehr auf’s Spiel zu setzen? Da muss das Begehren schon sehr groß und stark sein.

 

Aber diese äußeren Hindernisse sind nicht einmal die schwierigsten. Viel öfter stehen wir uns selbst im Weg. Unsere Vernunft und unser Wille tendieren nämlich leicht dazu, sich in den Vordergrund zu spielen und das Begehren zu verdrängen. Wir sind eitel, wollen gerne glauben, alles zu kontrollieren und im Griff zu haben, zumindest doch unsere eigene Biografie. Wir hören nicht auf unser Begehren, weil wir damit beschäftigt sind, all die ehrgeizigen Ziele zu erreichen, die wir uns einmal gesteckt haben. Weil wir zu festgelegte Vorstellungen von dem haben, was wir wollen.

 

Dem eigenen Begehren zu folgen, das ist nämlich etwas vollkommen anderes als Selbstverwirklichung. Es ist vielleicht eher so etwas wie Gehorsam gegenüber einer Notwendigkeit, die von außen an uns herangetragen wird. Wie etwa von den Kranken ihrer Heimatstadt, die von ihr behandelt werden wollten, an Dorothea Erxleben. Die dann einwilligte, das Wagnis einzugehen – ohne Erfolgsgarantie, ohne Sicherheitsnetz. Dem Begehren zu folgen – das geht nicht so, dass ich mir das Ziel aufmale und dann strategische Schritte tue und immer ausgefeiltere Techniken anwende, um dann schließlich dieses Ziel zu erreichen. Sondern es geht nur, indem ich mich auf ein Spiel einlasse, wenn ich zulasse, dass das Ende offen bleibt. Das Spiel des Lebens sozusagen. Ich spiele mit mir selbst – denn oft muss ich auch mit mir selbst verhandeln, wenn es darum geht, dem eigenen Begehren zu folgen, zum Beispiel bei der Frage: worauf bin ich bereit zu verzichten, um etwas anderes machen zu können? Bin ich bereit, auf Geld und Karriere zu verzichten, um eine sinnvolle Arbeit zu tun? Bin ich bereit, auf meine Spontanität zu verzichten, um ein Kind zu haben? Bin ich bereit, diese nervige Frau zu ertragen, weil sie wichtig ist für ein Projekt, das mir am Herzen liegt? Wenn wir – mit uns selbst oder mit anderen – über unser Begehren verhandeln, dann stellt sich uns immer wieder die Frage: Was bin ich bereit, zu geben im Tausch wofür? Wenn ich mich auf diese Verhandlungen einlasse, wenn ich mich dabei selbst auf’s Spiel setze (wenn ich nämlich das Risiko eingehe, mich selber in diesem Prozess zu verändern), dann kann Neues entstehen, dann kann mein Begehren befriedigt werden. Ich kann das nicht planen und kontrollieren oder gar herbeizwingen. Ich kann vielleicht die Wahrscheinlichkeiten erhöhen. Da es immer darum geht, mit anderen zu verhandeln, muss ich diesen Verhandlungsspielraum möglichst erweitern – und zwar sowohl, was die äußeren Bedingungen angeht, als auch „in meinem Kopf“.

 

Indem Frauen ihrem Begehren folgen, einen neuen Anfang machen, sich „aus dem Fenster der Welt hinauslehnen“, wie die Philosophin Luisa Muraro einmal schrieb, kann es geschehen, dass etwas möglich wird, von dem alle bislang dachten, es wäre unmöglich. Indem Dorothea Erxleben ein so großes Begehren hatte, Ärztin zu sein, dass sie viel riskierte, viel auf’s Spiel setzte, beharrlich und leidenschaftlich dafür arbeitete, bis sie ihr Universitätsexamen bekam, hat sich etwas verändert: Nun war es möglich, dass Frauen ein medizinisches Examen bekamen. Oder sogar: Nun war der Beweis erbracht, dass es immer schon möglich gewesen war, dass die Realität in Wahrheit ganz anders war, als man sie bis dahin wahr-genommen hatte. Die Wahrheit ist: Es gibt keine Löffel!

 

Um ein Missverständnis zu vermeiden: Dass etwas möglich ist, heißt natürlich nicht, dass es einfach ist. Nur weil es möglich ist, dass Menschen fünf Meter weit springen, kann ich das noch lange nicht. Dem eigenen Begehren zu folgen, das kann auch gefährlich sein, Größenwahn ist so eine Gefahr, Leichtsinn auch. Das ist einfach so, es liegt nicht am Patriarchat oder an den bösen Umständen. Das Problem ist aber, dass die Welt des Patriarchats keinen angemessenen Ort für das weibliche Begehren hat. In dieser alten symbolischen Ordnung gibt es keinen Platz für ein Begehren, das sich auf das richtet, was heute noch als unmöglich gilt. Deswegen gelten Frauen, die ihrem Begehren folgen, manchmal auch als verrückt, unlogisch, nicht ernst zu nehmen. Zuweilen scheitern sie tatsächlich, es wäre falsch, das zu verschweigen, sie scheitern an den Verhältnissen, daran, dass es sich wirklich als unmöglich herausstellt. Viele Frauen sind zum Beispiel auf dem Scheiterhaufen gelandet, oder im Irrenhaus, oder im Selbstmord.

 

Was wir in diesen Zeiten am Ende des Patriarchats brauchen, das ist deshalb eine Kultur, eine neue symbolische Ordnung, sagen die Diotima-Philosophinnen, die dem Begehren einen angemessenen Raum gibt, es aber gleichzeitig auch davor bewahrt, größenwahnsinnig und leichtsinnig zu werden. Wo das Begehren ernst genommen wird und nicht auf „realistische“ Ziele zurechtgestutzt, aber dennoch nicht ohne Maßstäbe, Kriterien und Beurteilungen bleibt. Die Arbeiten von Diotima haben gezeigt, dass eine Politik der Beziehungen unter Frauen, das Wirken weiblicher Autorität hier eine Antwort sein kann.

 

Dem Begehren einen Raum in unserer Welt zu geben, das ist keine leichte Aufgabe, sie erfordert viel Aufmerksamkeit und unsere Anstrengung. Trotzdem geschieht das bereits auf vielen Ebenen. Das ist auch der Grund dafür, warum die Frauenbewegung heute keineswegs überholt und überflüssig geworden ist. Denn, wie gesagt, Emanzipation war nie ihr hauptsächliches Ziel. Es geht um Freiheit und ein gutes Leben – nicht nur für die Frauen, sondern überhaupt – und in dieser Hinsicht gibt es auch heute noch viel zu tun. Die Probleme sind ja bekannt: Menschen verhungern, sterben an leichten Krankheiten oder Kriegen und einer Wirtschaftsordnung, die ihre eigenen Regeln zu Naturgesetzen erklärt. Außerdem hat jede von uns wahrscheinlich noch eine ganz eigene Liste von Problemen, für die sie gern eine Lösung hätte, auf meiner zum Beispiel steht derzeit ziemlich weit oben das Problem, dass immer mehr Freunde und Freundinnen von mir Abendverabredungen nur noch treffen mit dem Vorbehalt: „Wenn ich rechtzeitig aus dem Büro komme“ – solche Arbeitsbedingungen und –auffassungen sind ein echtes Problem für unsere Kultur.

 

Was kann man da machen? Keine Ahnung. Aber ich lasse mich nicht mehr davon beeindrucken, dass jemand sagt: Da kann man nichts machen oder: Was du da willst, ist doch unmöglich. Mag sein. Aber eine Frau, die ihrem Begehren folgt, kann an die Grenzen des Möglichen kommen und sogar darüber hinaus. Immer wenn eine einen neuen Anfang macht, dann erweitert sie die Möglichkeiten dessen, was eine Frau tun kann, oder auch, was Menschen überhaupt tun können. Sie verändert die Welt, sie vergrößert die Freiheit. Nicht spektakulär, das kommt nicht in den Nachrichten. Das lässt sich, glaube ich, auch nicht ändern. Ich selbst arbeite ja als Journalistin in diesen so genannten „etablierten“ Medien, und werde deshalb manchmal von Frauengruppen oder –projekten gefragt, was sie denn tun können, um in die Zeitung zu kommen. Nichts können sie machen. Es ist unmöglich, den Löffel zu verbiegen.

Früher habe ich mich selbst oft geärgert, dass die schönen Geschichten, die ich aus der Welt der Frauen geschrieben habe, zwar gedruckt oder gesendet wurden, aber keine große Bedeutung bekamen im Vergleich zu anderen Sensationsgeschichten. Inzwischen glaube ich, dass das gar nicht anders sein kann. Denn der Anfang erzeugt immer Kontingenz, er erscheint zufällig, ist nicht verallgemeinerbar, lässt sich nicht abstrahieren, in seiner „weltgeschichtlichen“ Bedeutung noch nicht erfassen.

 

Es gibt also keine Patentrezepte. Wir wissen ja nicht einmal, was genau anders werden soll. Aber solange wir begehren, solange wir die Freiheit lieben und bereit sind, uns selbst dafür auf’s Spiel zusetzen mitsamt unseren vorgefertigten Meinungen und Positionen, solange gibt es immer auch die Möglichkeit eines neuen Anfangs. Nichts muss so bleiben, wie es ist – diese befreiende Erfahrung haben wir der Frauenbewegung zu verdanken. Und wir können uns in jeder Situation klar machen, dass es niemals nur ein entweder – oder gibt. Wir haben immer die Wahl, auch etwas ganz anderes zu probieren, etwas Neues, Unterwartetes, Verrücktes, solange wir uns nur von der Vorstellung verabschieden, wir könnten alles kontrollieren und im Griff haben, solange wir offen sind für das, was da kommen mag.

Am Ende von „Matrix“, als die Welt noch keineswegs gerettet ist, sagt Neo, der von den anderen als Retter gefeiert wird: „Wie die Zukunft wird, weiß ich nicht. Ich bin nicht hier, um euch zu sagen, wie die Sache ausgehen wird. Ich bin hier, um euch zu sagen, wie alles beginnen wird“. Auch das „Ende des Patriarchats“ ist keine Lösung, sondern nur ein Anfang. Victoria Woodhull hat dafür im 19. Jahrhundert ein anschauliches Bild gewählt. Die radikalsten Veränderungen in der Gesellschaft, sagt sie, vollziehen sich unblutig, ohne große Revolten, Aufstände und Kriege. So wie beim Schienennetz der Eisenbahn: Solange die neuen Gleise noch im Bau sind, werden die Züge teilweise noch auf den alten Gleisen fahren. Aber wenn das neue Schienennetz erst einmal gut ausgebaut ist, werden die alten Gleise ganz von selbst verschwinden. Und, was das Bild auch zeigt: Solange es noch keine neuen Gleise gibt, kann es unter Umständen sogar gefährlich sein, die alten einfach ersatzlos abzumontieren.

 

Das, worauf es im Zusammenhang mit dem „Ende des Patriarchats“ ankommt, ist, dass dieses Ende vor allem der Anfang von etwas Neuem ist. Darauf müssen wir unsere Aufmerksamkeit richten, damit dieses Neue möglich wird. Das Begehren ist der Grund dafür, dass Neues in die Welt kommen kann. Es kommt aber darauf an, sich auf das Spiel einzulassen, sich auch selbst auf’s Spiel zu setzen, und einen neuen Anfang zu machen. Jede an dem Ort, wo ihr eigenes Begehren sie hinführt.

 

Vortrag am 27.5.2003 beim Fortbildungstage des Komitees für Chancengleichheit der Sanitätsbetriebe Meran und Brixen in Meran