Fragen an die Soldatin
Nur wenige Dinge haben mich so sehr beeindruckt wie das Foto mit der amerikanischen Soldatin, die einen irakischen Gefangenen wie einen Hund an der Leine hält. Wie das erste Erdbeben, das ich 1976 in Italien erlebt hatte, war die Wirkung: Eine Art von Schwindel und die Schwierigkeit, sich in der gewohnten Realität zurechtzufinden. Ich schloss die Augen und nachdem ich sie wieder aufgemacht hatte, schien mir alles, was in meiner Umgebung war, wie vollständig verändert. Dieses Bild hat sich mir so klar ins Gedächnis eingeprägt, dass ich es in den nächsten Tagen vermied, der Flut von Reproduktionen in den Zeitungen und im Internet zu begegnen. Ich hatte auch keine Reaktion darauf, wie gewöhnlich, wenn ich mir z.B. sage „schlimm“ oder „schrecklich“ und andere Dinge. Ich war sprachlos und hatte auch kein moralisches Urteil dazu. Am Anfang meines Denkens stand nur ein Gefühl, das mich aber orientierte und mich nicht mehr losließ.
Viele Artikel von Journalisten und Journalistinnen, die ich für menschlich und wissenschaftlich kompetent halte, habe ich daraufhin gelesen und feststellen müssen, dass nur wenige Männer sich explizit dazu äußerten, allerdings viele Frauen. Besonders denke ich da an einen Artikel von Ida Dominijanni im „Il Manifesto“ und einen weiteren von Lia Cigarini in der „Via Dogana“ und auch einen von Miriam Maffei in der „Repubblica“.
Ist diese junge Frau und Soldatin eines dieser bösen Mädchen, vor denen ich anfange Angst zu haben, wenn ich allein abends in der U-Bahn bin oder ist sie das Ergebnis einer Frauenbewegung, die nach allem, was sie gepredigt hat, es offensichtlich vor allem zustande gebracht hat, dass die Frauen jetzt wie die Männer geworden sind? Natürlich sind wir nicht schockiert, wenn wir in Fernsehfilmen eine erfolgreiche Anwältin sehen. Wir sind es aber jetzt, wenn wir eine grausame Soldatin vor uns haben. War es möglich, dass die Gleichberechtigung auch eine gleiche Fähigkeit zur Gewaltausübung meinte? Dieses Foto hat nicht nur das Selbstbild von uns Frauen zerstört, sondern auch das Selbstbild, das die Männer von uns haben, sagt Luisa Muraro bei einem Gespräch an der Universität von Verona. Wahrscheinlich fällt es den Männern immer schwerer, Frauen zu idealisieren und männliche Journalisten schreiben vielleicht deshalb nicht so viel über dieses Thema, weil sie selbst unter dem Verlust des positiven Bildes der Frau leiden, das immerhin auch für sie ein existentieller Rettungsanker gewesen ist.
Denjenigen von uns, die im Internet surfen, fällt auf, dass es sich hierbei auch um ein Photo für sadomasochistische Sex-Spiele handeln könnte. Frauen, die eine sexuelle Rolle übernehmen, die der männlichen Phantasie entsprungen ist. Es handelte sich dann nicht so sehr um Soldatinnen, die als Frau den Weg in die Freiheit suchen, sondern vielmehr um fremdgesteuerte Lebewesen, die nicht ihrem eigenen Begehren folgen, sondern dem Begehren des Mannes und sich seinen Wünschen und Phantasien fügen. Diese Interpretation kann etwas Wahres aussagen, aber andererseits schützt sie uns auch vor den schlimmsten Selbstzweifeln. Wer selbst seit Jahren zur Frauenbewegung gehört, tendiert dahin, diese Vorkommnisse von sich fernzuhalten. Einige halten diese Soldatinnen nicht einmal für Frauen, andere bezeichnen sie als Ausnahmen. Luisa Muraro aber bezeichnet dieses Ereignis als „Katastrophe, die uns darüber belehrt, auf welche Weise die weibliche Freiheit von vielen Frauen verstanden wurde. Das weibliche Geschlecht könne sich deshalb nicht mehr als zivilisatorisches Element der Menschheitsgeschichte darstellen. Die zu zivilisierenden Geschlechter seien nun sowohl das männliche als auch das weibliche, sagt Luisa Muraro in der Zeitschrift „Via Dogana (Nr. 69) vom Juni 2004.
Ida Dominijanni von der Tageszeitung „Il Manifesto“ unterscheidet dagegen zwischen phallischen Frauen und nicht phallischen Frauen, wobei sie Condoleza Rice zu den ersteren rechnet. Dieser Kategorie geht es nur um den Machtkampf mit Männern um die volleren Fleischtöpfe. Diesen Frau geht es nicht um die Freiheit, d.h. zwar um Freiheit, aber nur als ein funktionalisierte Eigenschaft. Allerdings bin ich nicht von der phallischen Potenz der Condoleza Rice überzeugt.
Natürlich sehe ich täglich Fotos, auf denen man sieht, wie Gewalt ausgeübt wird. Normalerweise berühren sie mich sehr stark, auch bei Filmen, die Gewalt darstellen, muss ich manchmal wegsehen. Hier auf den Fotos von Abu Ghraib handelte es sich allerdings nicht um die Gewalt an sich, um Schmerzen des Opfers und um Blut und Tod, sondern vielmehr um eine vorwiegend symbolische Gewalt, die, wie ich feststellen musste, noch eine stärkere Wirkung auf mich ausübte als die physische Gewalt. Normalerweise berührt mich das Leiden der Opfer in den Gewaltszenen, aber in diesem Fall schockierte mich besonders das „Leiden“ der Täterin. Auch wenn sie später als „Mitläuferin“ bezeichnet wurde (und über Mitläufer wissen wir Deutschen ja inzwischen allerhand) ist allerdings für mich eine Frau bei einer solchen Handlung keine Mitläuferin. In der Männerwelt und beim „Kriegshandwerk“ könnte das zwar passieren, aber bei Frauen halte ich das für unmöglich, da, zwischen dem Gewalt erleiden und dem Gewalt antun, sich in der Geschichte der Frauen ein sehr tiefer Graben auftut. Gewalt ausüben war bisher das Handwerk der Männer. Schon in vielen Familien wartete früher die Mutter, bis der Vater nach Hause kam und die Kinder für ihre „Missetaten“ bestrafte. Handgreifliche Gewalt ist im Selbstbild der Frau fast nicht vorstellbar. Psychische Gewalt sehr wohl: Angefangen von sadistischen Nonnen bis zu giftenden Müttern, Lehrerinnen und Ehefrauen als Drahtzieher oder graue Eminenzen, die in den Kriminalfilmen den Mann für ihre teuflischen Pläne verwenden, sind böse Frauen schon immer denkbar gewesen, aber Frauen, die Gewalt ausüben sind uns nicht sehr geläufig.
In meinem eigenen Selbstbild als Frau sind Konfliktlösungen nur über Sprache möglich und über symbolische Gesten, auch wenn das eine böse Sprache sein kann, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Wenn ich verletzt werde, dann kann ich durch Worte einen anderen Mann oder eine andere Frau sicherlich gehörig „abmetzeln“. Allerdings kann ich mir fast nicht vorstellen, dass ich selbst handgreiflich werden könnte, oder vielleicht doch, allerdings als Reaktion auf einen Angriff und als Schutz vor weiteren Schlägen. Als Mädchen habe ich auch manchmal, z. B. meinem Bruder in die Hand gebissen oder ein anderes Mädchen gekratzt und getreten. Durch meine Erziehung seitens meiner Mutter und Tanten habe ich gelernt, eher symbolische Arten der Auseinandersetzung zu suchen: „Gewalttätig werden, das tut ein Mädchen nicht“. Wenn ich also in Schwierigkeiten gerate, muss ich mehr darauf achten, dass ich meine Zunge in Zaum halte als meine Hände und Füße.
Der symbolische Austausch ist uns Frauen nämlich sehr geläufig. Wir machen einerseits gerne kleine Geschenke, um unsere positiven Beziehungen zum Ausdruck zu bringen und andererseits sprechen wir schlecht über andere, um uns an ihnen zu rächen und sie zu verletzen. Ein ganzes Arsenal an verbalen Strategien und Ausdrucksarten stehen uns zur Verfügung. Auch die Märchen, die ich als Verschriftlichung weiblicher mündlicher Literatur und Lebensphilosophie ansehe, enthalten ja nichts anderes als den Versuch symbolischer Konfliktlösung, bei dem es zwar sehr grausam zugeht und auch Körperteile auf der Strecke bleiben und abgehackt werden, Prinzessinnen vergiftet werden und sonst noch vieles mehr, wo aber alle Akte der Gewalt, gerade weil sie nur eine psychische Gewalt zum Ausdruck bringen, und deshalb auf der Ebene der Symbolisierung ablaufen, wieder gesühnt werden und am Ende die abgehackten Hände auch wieder mit dem Arm zusammenwachsen können.
Sollte es vielleicht sein, dass gerade in dem irakischen Gefängnis diese schrecklichen symbolischen Verletzungen ausgeübt wurden, weil eine Frau die Generalin dieser Einheit war und weil Frauen inzwischen einen mehr oder weniger großen Anteil an den Truppen haben? Ist das, was passiert ist, vielleicht gerade durch diese weibliche Art der Kriegsführung zu erklären?
„Der Mann, die Krone der Schöpfung ist in den Schmutz gezogen worden“, das war eine der ersten
Assoziationen, die mir beim Anblick des Fotos in den Sinn gekommen waren.
Offensichtlich ist der Mann seitens einer Frau in meinem Unbewussten unantastbar gewesen, so sieht es jedenfalls aus. Wenn ich Fotos vorher gesehen hatte, wo Gewalt an Frauen ausgeübt wurde, dann war ich zwar empört, aber doch nicht erschüttert, weil es zu meinem Weltwissen gehörte, dass Frauen vergewaltigt und geschlagen und getreten und gesteinigt werden. Und auch hier wieder war auf jeden Fall die Positivität der Frau gewahrt, weil jedes Opfer an sich schon positiv ist, dadurch, dass es nicht zum Täter geworden ist. Diesmal aber erscheint der Mann als Opfer und somit als der Gute. Man will sich zwar an ihm rächen, aber dadurch, dass er zum Opfer wird, erlöscht sozusagen sein Schuld-Konto und es wird ein Unschuld-Konto aufgetan. Der vorher als frauenversklavende Muslim angesehene Iraker wird insofern zum Objekt unseres Mitleidens, als die Frau zur Täterin wird.
Die Frau aber als Täterin erschreckt mich zwar einerseits, verursacht bei mir aber auch Mitleiden. Ich meine damit, dass ich mit einer solchen Frau mitleide, die schwanger ist und eine so geartete Gewalt vollzieht. Täter tun mir immer mehr leid als die Opfer, denn die Opfer sind positive Figuren, die entweder unschuldig sind oder für das Gute eintreten und deshalb verfolgt werden. Die Täter hingegen wecken mein Mitleid, weil es ihnen nicht gelungen ist, das Leben zu lieben. Vielleicht hat es ihnen niemand beigebracht, vielleicht hatten sie nicht die gefühlsmäßige Klugheit, einen positiveren Weg einzuschlagen. Vielleicht haben sie unter der Gewalt anderer nahe stehender Personen gelitten.
Wenn Frauen nicht mehr immer nur in der Opferrolle anzutreffen sind, sondern auch in der Täterrolle, was bewirkt das in uns und welche Reflexionen verursacht diese Tatsache in Bezug auf den Feminismus?
Wo sind wir nun hingekommen? Wollen wir Frauen noch immer das, was inzwischen unter dem Schlagwort „Gleichstellung“ passiert? Als ich anfing, mir über die Rolle der Frau und über meine Lage Gedanken zu machen, hatte ich eher darauf gehofft, dass z.B. auch Frauen Priester werden können, nicht aber Soldaten, Offiziere und Generäle einer Armee. Bei der starken Neigung vieler Frauen zu Geistigkeit, Mystik und Meditation fände ich sie gerade an dieser Stelle, bei der Ausübung von Religion sehr wichtig, nicht aber da, wo Frauen eigentlich nie Ambitionen gehabt haben. Und es stellt sich die Frage, wenn wir uns das israelische Heer ansehen, bei dem alle unverheirateten, kinderlosen Frauen den Wehrdienst leisten müssen, ob wir nicht dabei sind, uns zu vermännlichen und damit unsere Differenz aufzugeben? Wenn wir in allem das gleiche tun wie die Männer und nicht einen anderen Gesichtspunkt einbringen, der sich neben den der männlichen Gesellschaft stellt, dann führt das dazu, dass die von Männern, z.T. für Männer, gedachte Welt zum einzig möglichen Modell wird. Wollten wir nicht dagegen aus der weiblichen Tradition entstandene Lebensentwürfe möglich machen und damit auch das männliche Denken beeinflussen? Die Befreiung vom Patriarchat hatte ich mir so vorgestellt, dass das unterschiedliche Denken von Frauen und Männern das männliche Einheitsmodell überwindet. Es hat meiner Meinung nach keinen Sinn, wenn wir alle nur noch in grauen Hosenanzügen herumlaufen, Anzügen die den männlichen Kleidungsgewohnheiten nachempfunden sind. Schon die Mode bringt zum Ausdruck, welches Modell hier den Ton angibt.
Oder wollen sich die Frauen nun wirklich an den Männern für all die Jahrhunderte der Unterdrückung rächen? Ist die amerikanische Machtpolitik nicht unter dem Mäntelchen der Befreiung der Frauen des Islams in die islamischen Länder eingedrungen und will jetzt die Macht des dortigen Patriarchats brechen? Immer die Macht des Patriarchats der anderen natürlich, weniger die des eigenen. Sind also die amerikanischen Soldaten und Generäle die bewaffneten Ritter der Frauenbewegung, die den Frauen Schützenhilfe leisten? Geht es vielleicht bei diesem Krieg mehr um die Frauen als um das Erdöl?
Der Frühkapitalismus hatte die Frauen zu entfremdeter Lohnarbeit befreit. Der Nationalsozialismus zum Dienst bei der Ermordung der Juden in den KZs, der Spätkapitalismus zu freiem Konsumverhalten und das derzeitige amerikanische Demokratie-Regime zu der Rache an den Männern in den armen Ländern durch den Waffendienst. Ist das die Befreiung der Frau, an die die Frauen gedacht hatten? Oder vielleicht doch immer nur eine Rechnung zu Gunsten der Herrschenden?
Der Feminismus als revolutionäre Aktion stellte den einzelnen oder die einzelne vor die Entscheidung, in jedem Augenblick etwas zu tun, was eigentlich gegen die eigene Erziehung und eigene Gewohnheiten verstößt. Wir können auch an uns selbst beobachten, dass wir manchmal dazu neigen, gegen unser Gewissen und unsere Gefühle dem Willen zu einer scheinbar wirkungsvollen Handlung zu folgen, um dann bereit zu sein, um der Kohärenz willen, alles zu tun, was daraus folgt. Oft ahmen wir ganz einfach das Handeln derjenigen nach, die die gleichen Entscheidungen getroffen haben, aber wir kümmern uns nicht mehr um jede einzelne Aktion. Eine italienische Freundin erzählte einmal in einem persönlichen Gespräch eine sehr erhellende Episode aus der Zeit der 68er Studentenbewegung. Ihre Clique war nachts nach einer Fete auf einem Friedhof gelandet und einige der Gruppe hatten in einem antiklerikalen und zerstörerischen Anflug angefangen, auf den Gräbern herumzutrampeln. Sie selbst war so schockiert gewesen, dass sie als Reaktion in Tränen ausgebrochen war. In diesem Augenblick hatte sie begriffen, dass eine Bewegung, an der man teilnimmt, keine Befreiung vom eigenen Denken und Fühlen bedeuten kann. Sie hat sich daher dazu entschieden, sich selbst und ihren Gefühlen treu zu bleiben, eine Haltung, die ich bei vielen Frauen beobachtet habe und die mir an der italienischen Frauenbewegung besonders interessant erschien. Hat der Feminismus nach dem Ende des Patriarchats vielleicht eine nachrevolutionäre Gewaltbereitschaft hervorgerufen?
Ich habe eingesehen, dass es keinen Sinn hat, den eigenen vorhergehenden Lebenslauf ausradieren zu wollen und etwas anderes an seine Stelle zu setzen. Wie ich meine Muttersprache nicht durch eine Fremdsprache ersetzen kann, sondern n ur neue Sprachen hinzufügen, so kann ich auch meine Herkunft, meinen erlernten Orientierungsrahmen und meine Gefühle nicht negieren, indem ich mit den bekannten Macht/Gewalt-Mitteln agiere, um den durch meine Ohnmacht verursachten Schmerz zum Schweigen zu bringen. Dabei zerstöre ich mich selbst, kann aber nichts Neues aufbauen, weil meine gewohnten Verhaltensweisen in unbewusster Form wieder aktiv werden würden.