diotimacomunità filosofica femminile

per amore del mondo Numero 6 - 2007

Taglio del presente

Die abgeschnittene Zunge

Durch die Presse ging im März dieses Jahres die Nachricht, dass eine Lehrerin in einer Schule des Mailänder Hinterlandes einem ausländischen Schüler mit der Schere die Zunge abgeschnitten hatte. Ich bin entsetzt über diese Wahnsinnstat. Sofort fällt mir der Titel von Elia Canettis autobiografischem Roman ein: Die gerettete Zunge. Damals, als ich es zum ersten Mal las, schien mir dieses Buch ein wunderbares Nachdenken über Mehrsprachigkeit zu sein. Es sagt, in welchem Zusammenhang Sprache mit den Beziehungen steht, die ein Kind in den ersten Jahren erlebt und wie Erfahrungen und Wörter zu einer Einheit verschmelzen. Natürlich wird die Zunge in dem Roman von Canetti nicht abgeschnitten, sondern „gerettet“, denn solche Drohungen werden zwar in der Kindheit von Müttern, Vätern, Kindermädchen und vielleicht auch LehrerInnen benutzt, aber immer nur als Drohung. Alle Beteiligten wissen ganz genau, dass das nie passieren wird, denn wir unterscheiden genau zwischen Realität und nur Vorgestelltem. Dann fiel mir die Metapher ein, die bei diesem Delikt mitgemeint ist, allerdings nur im Italienischen, denn da werden Zunge und Sprache durch das gleiche Wort bezeichnet. „La lingua tagliata“ heißt also ganz konkret „die abgeschnittene Zunge und gleichzeitig „die Sprache, die zum Schweigen gebracht wurde“. Was mich so besonders dabei erschrak, war die Tatsache, dass eine Metapher in die Realität umgesetzt worden war, dass also das Gefühl für den Unterschied zwischen Realität und Nicht-Realität aufgehört hatte, wirksam zu sein.  Vielleicht ist aber die Muttersprache, wenn die Mutter uns mit Hilfe der Sprache in die Realität einführt, genau das: Wir lernen zwischen Realität und Nicht-Realität zu unterscheiden. Hier in diesem Augenblick geschieht etwas, was uns endgültig orientiert. Auch deshalb ist sie so wichtig.

 

Aber im Alltag läuft die Muttersprache ständig Gefahr, unterdrückt und diskriminiert zu werden. Meiner Meinung nach ist sie aber unverzichtbar und alle Kinder, auch die Emigrantenkinder, würden glücklicher werden, wenn sie sorgenlos die Sprache ihrer Mutter lernen könnten. In den Institutionen und in der allgemeinen Vorstellung ist aber eine andere Meinung verbreitet, dass nämlich die Mütter so bald wie möglich ihre Herkunftssprache aufgeben sollten, um mit ihren Kindern die Landessprache zu sprechen. Man fürchtete nämlich bisher, dass der Gebrauch der Muttersprache das Erlernen der neuen Sprache und die Integration in die neue Gesellschaft erschweren könnte. Man spricht auch von Semilingualismus, d.h. reduzierte sprachliche Kompetenzen in beiden Sprachen. Allerdings haben inzwischen die meisten Untersuchungen gezeigt, dass der Gebrauch von zwei Sprachen schon in der frühen Kindheit kein Hindernis bei der Entwicklung der Intelligenz sind und meistens die Lernfähigkeit verbessern, jedenfalls nicht beeinträchtigen.[1]

 

Szenenwechsel: Als ich kürzlich in eine Hauptschule (in der Peripherie von Verona) ging, um dort einen Fortbildungskurs zum Thema der Zweisprachigkeit zu halten, schämte ich mich plötzlich. In meiner Tasche steckten Bücher über Integration und Mehrsprachigkeit und über Probleme unserer multikulturellen Gesellschaft, in meinem Kopf Vorschläge für eine bessere Beziehung zwischen häuslicher und schulischer Welt. Vor der Schule mit der abbröckelnden grauen Fassade parkte ein altes Auto, in dem eine afrikanische Familie auf die kleine Tochter wartete. Als ich in das Gebäude eintrat, wurde ich in das fließende Licht[2], königsblau und orange, der Flure hineingezogen. Ein kleiner Freudenschrei entfuhr mir: Meer, Wasser, Sonne, Leichtigkeit, Freundschaft. Am Ende des Gangs waren Kulissen abgestellt, die zur Aufführung des neuen Theaterstücks gedient hatten. Lässig gingen hier und da Kinder in allen Hautfarben die Treppe hoch oder verschwanden hinter einer mit Fotos beklebten Tür.  In dem Vortragsraum saßen schon die Lehrerinnen, die auf mich warteten, ruhig mit ihrem Heft auf der Schulbank vor sich, an den Wänden großzügige Zeichnungen, die Reisen über den Horizont hinaus darstellten. Hatten diese stillen Frauen die Regie zu diesem lebenden Kosmos aus vielen Farben geführt? Wo waren die Journalisten  und die Fotografen, die sich drängten, diese Stars unseres Alltags  zu interviewen und mit der Kamera aufzunehmen. Wo waren die Scheinwerfen, die deutlich machten, dass es sich hier um einen einmaligen historischen Augenblick handelte, den man keinesfalls verpassen durfte. Nichts von alledem. Alles, was sie erreicht hatten,  war wie selbstverständlich. Hier kam es mir vor, es mit einer Avantgarde des Zusammenlebens zu tun zu haben. Meine Bewunderung fanden diese Lehrerinnen allerdings übertrieben.

 

Sprachenpolitik

Bis vor wenigen Jahren brauchte Italien keine Sprachenpolitik, da das ganze Land,  was die Sprachen betraf,  die hier gesprochen wurden, ziemlich homogen war. Dagegen zeichnete sich Italien durch seine Dialektvielfalt aus. Auch für ausländische Linguisten war es ein häufig verwendetes Forschungsgebiet. Die älteren Leute und in einigen Gebieten auch die jungen Leute von heute hatten zwar keine Erfahrung mit Fremdsprachen, konnten aber ihren heimischen Dialekt. Der war ihre wirkliche Muttersprache, die Sprache des Herzens und das Herz der Sprache. Die Problematik, die sich aber dadurch ergibt, kann man mit den Problemen, die die ausländischen Bürger heute mit ihrer Muttersprache haben, vergleichen. Beide sind die mündliche Sprache von meist armen Leuten, die keine besonders hohe Schulbildung haben. Diejenigen, die allerdings die Schriftsprache besaßen und mit einem Buch ihre soziale Bedeutung einklagen konnten, hatten es dagegen viel leichter, soziale Anerkennung zu bekommen. Der Dialekt war zum Teil auch in den Schulen verboten und die Mütter und Väter, die ihren Kindern  nichts anderes beibringen konnten, schämten sich sehr und wurden auch von den Lehrern und Lehrerinnen „schief „ angesehen. Einige versuchten daraufhin zu Hause eine von ihnen selbst erfundene Hochsprache einzuführen, damit die Kinder es in der Schule leichter hatten, waren aber nicht immer sehr erfolgreich dabei. Die Aufgabe ihrer diskriminierten heimischen Sprachvarietät, in der sie ihre Gefühle und Gedanken am besten ausdrücken konnten, schmerzte sehr und führte dazu, dass viele Dinge, die nur spontan gesagt werden können, ersatzlos gestrichen wurden und zu einer Verarmung der expressiven, grammatischen und lexikalischen Kompetenz der SprecherInnen führte. Aber um dem zukünftigen sozialen Aufstieg der eigenen Kinder nicht im Wege zu stehen, brachte man dieses große Opfer.

Den Dialekt zu diskriminieren und als ungebildet abzutun, war aber, wie wir heute wissen, ein politischer Fehler. Diese Einsicht entsteht heute dadurch, dass wir erkennen, welchen unverzichtbaren Wert die Muttersprache für alle Menschen hat. Es bleibt nur zu hoffen, dass der gleiche Fehler nicht jetzt wieder gemacht wird, wenn es um die Muttersprache unserer ausländischen Mitbürger geht. Der heimische Dialekt wurde zugunsten einer verarmten Standardsprache aufgegeben und an die Stelle der effektiven Zweisprachigkeit der Kinder vom Lande (Dialekt +Hochsprache), wie sie früher selbstverständlich war, ist ein allgemein verbreiteter Monolinguismus getreten, der zum großen Teil die Fernsehsprache reproduziert.

Eine Wende unserer Sprachenpolitik ist deshalb angesagt. Alle Sprachvarietäten sind ein unveräußerbarer Schatz der menschlichen Kultur und sollten verwendet werden dürfen. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir nicht eine gemeinsamen Verkehrssprache, Literatursprache und Fremdsprache dazu lernen müssen. Die vorherrschende Einsprachigkeit ist außerdem das Ergebnis einer veralteten wissenschaftlichen Vorgabe, dass sich nämlich ein kleines Kind in einer einzigen Sprache besser entwickeln kann. Heute wissen wir, dass ein Kind spontan bis zu einem gewissen Alter nicht nur eine fremde Sprache sondern mehrere und vieles andere mehr erlernen kann.

Wir könnten uns z.B. die Sprachenpolitik in Südtirol, in der EU, den USA oder in Südafrika anschauen. Wir könnten die meisten Länder auf der Welt aufzählen, die sich um ihre Sprachenpolitik kümmern müssen, denn das Zusammenleben von Bevölkerungsteilen, die unterschiedliche Sprachen sprechen, ist eher die Regel und solche, die dieses Problem nicht haben, eher die Ausnahme. Im Allgemeinen können wir einige bestimmte Arten der Sprachenpolitik feststellen, die die Integration der verschiedenen Bevölkerungsteile zum Ziel haben:

Strategie der Gleichstellung

Strategie der Unterordnung

Strategie der Auslöschung

Strategie der Aufwertung aller Muttersprachen

An dieser Stelle ist es nicht mögliche alle vier Modelle ausführlich zu beschreiben, aber schon die Bezeichnungen machen verständlich, welche Politik sich dahinter verbirgt. Ich bin der Meinung, dass die Muttersprache eine größere Bedeutung bekommen muss, weil dadurch auch die späteren Sprachen besser gelernt werden können und die Kinder in einer entspannteren Atmosphäre aufwachsen können, ohne sich ihrer Muttersprache zu schämen, sei es ein Dialekt, ein Jargon oder eine ausländische Sprache.

 

alles vermischt sich

Was würde mit den Sprachen passieren, wenn man sie sich selbst überließe? Wenn die Politik nicht mit allen ihren Mitteln eingreifen und die Sprachen absichtlich „rein“ halten würde? Zu den gebildeten Überzeugungen, die wir in der Schule erwerben, gehört es zu sagen: Die gebildete Sprache ist eine reine Sprache, die vermischten Sprachen sind  Unterschichtensprachen. Viele  auch neuere Bücher zur Linguistik der Sprachvarietäten vertreten diesen Ansatz. Das in Zweifel zu ziehen, wäre ein Tabubruch. Gegen alle guten Gründe verhalten  wir uns auch weiterhin nach diesen impliziten Vorannahmen. Es handelt sich um ein ungeschriebenes Gesetz, auch wenn wir wissen, dass die Blütezeit vieler Hochkulturen genau dann zustande gekommen ist (und höchstwahrscheinlich genau aus diesem Grund), als die Vermischung extrem stark war. Man denke nur an das Prag der Kafkazeit, als man wenigstens drei Sprachen in der Stadt sprach und drei Bevölkerungsteile mit je eigener  Kultur dort lebten oder an die Zeit der berühmten Übersetzerschule von Toledo. Natürlich könnte man noch unzählige andere Beispiele nennen.

In der Unterschichtensprache vermischt sich alles viel leichter, weil die bildungspolitischen Verbote nicht gehört werden und jeder so „spricht wie ihm der Schnabel gewachsen ist“. Im italienischen sagt man nicht von ungefähr „man spricht wie man isst“, denn Sprechen und essen  gehören irgendwie zusammen. Erst seit wenigen Jahren meinen die Vertreter der Ethnolinguistik und der Soziolinguistik nicht mehr, dass die beiden Sprachvarietäten nicht mehr zu einem restringierten Code oder zu einem elaborierten Code gehören, wie es noch Basil Bernstein[3] in seinem Buch geschrieben hatte. Ganz im Gegenteil, konnte man feststellen, dass es sich um komplett ausgebildete Sprachen handelt, die außerdem auf intelligente Weise alles zum Ausdruck bringen können, was sie sagen möchten[4], dass sie aber nicht die Regeln der Standardsprache respektieren und natürlich auch nicht auf Sprachvermischung verzichten. Jedes Mal nämlich, wenn Menschen einen  gemeinsamen Raum bewohnen, Gefühle teilen und Handlungen gemeinsam vollziehen, könnte man sagen, entsteht eine gemeinsame Sprache. Ein gutes Beispiel dafür ist Südtirol, wo die Realität für beide Bevölkerungsgruppen ziemlich gleich ist: Sie haben die gleiche Landschaft, sie gehen über die gleichen Strassen, sie arbeiten zusammen, haben allerdings einige kulturell unterschiedliche Gewohnheiten, besonders innerhalb der Familien. Wenn aber eine gemeinsame Realität und gemeinsame Handlungen das Leben skandieren, dann müsste eigentlich kein Bedürfnis nach einer unterschiedlichen Sprache bestehen. Da aber alle ihre eigene Muttersprache lieben, entsteht eine Vermischung von beiden, wobei kein Gesetz die Gleichstellung oder die Vermischung regelt, sondern sie entsteht aus dem Bedürfnis der Menschen, sich dem anderen verständlich zu machen, ihm großzügig entgegen zu kommen und aus der Liebe und der Bewunderung des anderen. Auch in der EU könnte eine solche gemeinsame Sprache entstehen und nicht das Englische als Verkehrssprache notwendigerweise gebraucht werden. Es könnte von unten her etwas ganz Neues gesprochen werden. Unter den Europaparlamentsabgeordneten ist man schon dabei, so ein Sprachengemisch zu sprechen. Das Jiddisch der osteuropäischen Juden war ja auch nichts anderes.

Auch die Sprache der Intellektuellen ist schon so eine Mischsprache, nicht an der Oberfläche sondern in dem Tiefenbereich, wo sich die Konzepte und die Weltanschauungen gemischt haben. In den Wissenschaften haben wir es schon mit einem universalen Denkstil zu tun, der durch den Beitrag von WissenschaftlerInnen der ganzen Welt entstanden ist. Ein Beweis dafür ist die Tatsache, dass es uns sehr leicht gelingt, einen wissenschaftlichen Text in einer Sprache zu lesen, die wir eigentlich gar nicht so ganz gut beherrschen. Die durch die Wissenschaft dargestellte Welt ist schon eine gemeinsame Welt, die überall gleich und auch schon ziemlich standardisiert ist. Die Metaphern und die Konzepte sind ähnlich und die innere Sprache ist in allen Universitäten der Welt gleich. Die gleiche Sprache schreiben und sprechen wir mit unterschiedlichen Vokabeln.

Die wirkliche Muttersprache der einzelnen Personen  ist allerdings ganz unterschiedlich Sie verfügt über einen unendlich reichen Schatz an nicht erwarteten Bildern, grammatischen Phänomenen, die nur schwer in eine andere Sprache übersetzt werden können. Wir haben wirklich schon eine universale Sprache, die nämlich der Wissenschaft, und eine ganz spezifische fremde Sprache, nämlich unsere jeweilige Muttersprache.

Natürlich ist eine Verkehrssprache auch notwendig, denn sonst könnten wir uns in einem etwas weiteren Kreis über unsere Freundschaften und Familien hinaus kaum verständigen.

 

Zweisprachigkeit und die Beziehungen innerhalb der Familie

Die berühmtesten Bücher über Zweisprachigkeit sind oft von Vätern und Müttern, die auch Universitätsprofessoren waren, geschrieben worden, die ihre eigenen Kinder nach strengen Regeln des Bilinguismus erzogen und bei ihrem Entwicklungsprozess beobachtet haben. Diese Art der Erziehung ist natürlich ein wenig eigenartig und auch gar nicht verallgemeinerbar. In vielen zweisprachigen Gebieten, wie z.B. in Südtirol oder in den heutigen Großstädten mit sehr vielen Emigrantenfamilien verläuft die zweisprachige Erziehung nicht in so einer „Laborerfahrung“ wie bei den Intellektuellenfamilien, sondern im wirklichen Leben mit all den Komplikationen, die das mit sich bringt.

Die Sprache ist nicht von den Beziehungen abtrennbar und die Zweisprachigkeit ist kein wissenschaftlich objektivierbares Phänomen. Alles das, was die menschlichen Beziehungen betrifft, kann man kaum objektivieren und schon gar nicht programmieren und für die Zukunft festschreiben. Renzo Titone sagt diesbezüglich in seinem Buch „Die zweisprachige Persönlichkeit“[5]: „In den Kern der mehrsprachigen Persönlichkeit eindringen zu wollen, ist sehr schwierig: Es handelt sich um ein komplexes Problem aufgrund der dichten Vernetzung von Sprachkompetenz und Komponenten des sozialen,  kulturellen, geschichtlichen und politischen Milieus. In der Psyche der erwachsenen  mehrsprachigen Persönlichkeit sind im Laufe seiner mehr oder weniger reichen Lebenserfahrungen  komplexe Strukturen entstanden, die sowohl im Bereich des Bewusstseins als auch des Unterbewusstseins und der Kontrolle über das Selbst agieren. Oft bestimmt mehr das Unterbewusste als das Bewusstsein über die sprachlichen Erfahrungen.“[6] Das schöne Buch “La Babele dell’inconscio, Lingua madre e lingue straniere nella dimensione psicoanalitica[7] erzählt von diesen Erfahrungen mit Sprache.

Es handelt sich um eine Studiendebatte, die schon seit Jahren die Wissenschaft beschäftigt. Traute Taeschner[8] spricht  in ihrem “The sun is feminin” von einer gemischten Erstsprache und dass die Kinder erst nachher die Fähigkeit bekommen, die beiden Sprachen klar zu trennen. Andere vertreten allerdings die Auffassung, dass die beiden Sprachsysteme von Anfang an eigene Wege gehen. Jedes Kind lernt, meiner Meinung nach, auf unterschiedliche Weise seine zwei oder mehr Sprachen.  (Dazu käme dann auch noch die unterschiedliche Sprachentwicklung von Mädchen und Jungen.)

In den zweisprachigen Familien sind die Beziehungen innerhalb der Familie durch die Sprache viel evidenter als in anderen. Das Kind registriert wie ein Seismograph jede Veränderung in den Beziehungen. Das weiß man auch, denn die Eltern machen sich immer Sorgen und schämen sich auch, wenn sie daran denken, was die kleinen Kinder über die Familie ausplaudern könnten: Geheimnisse aber vor allem die Art  miteinander umzugehen. Denn die Wörter, die Redewendungen und das Sprachregister enthüllen gnadenlos die Art der Umgangsformen, die unter den Familienmitgliedern vorherrscht.

 

aus Liebe sprechen

Die Sprache ist nicht wie ein Hammer oder eine Zange ein pures Werkzeug, sondern etwas, was man ein uneigentliches Mittel nennen könnte, weil es sich mit Gefühlen und Ausdrucksweisen des Körpers vermischt, die oft unbewusst sind. Die Sprache der Mutter und der Familie übermittelt uns nicht nur die erste Sprachfähigkeit, sondern sie bildet unseren gesamten Charakter aus, der sich aufgrund der unterschiedlichen frühkindlichen Erziehung auf immer von dem der anderen Personen unterscheiden wird. Die Sprachfähigkeit entsteht normalerweise durch eine herzliche Zuwendung zum Kind. Alle möchten wir unseren Fremdsprachenstudenten und –Schülern empfehlen, sich so bald wie möglich in ein ausländisches Mädchen oder einen ausländischen Jungen zu verlieben, denn dadurch könnten wir sicher sein, dass sie die Sprache wunderbar lernen würden.[9] Wir wissen nämlich insgeheim, dass man nur durch die liebevolle Zuwendung wirklich spontan und leicht etwas lernen kann, denn in einer solchen zärtlichen Beziehung sind wieder alle Sinne aufnahmebereit und helfen dabei, die eigenen Grenzen zu überwinden, dass so etwas wie eine Vermischung entstehen kann und fast eine Verschmelzung möglich wird. Diese Art des Aufbrechens der schon gefestigten psychischen und aus der Kindheit herkommenden  Strukturen ist sonst eher unmöglich. Bei einer neuen Sprache, wenn man nicht nur die Regeln lernen will, handelt es sich aber genau um diese tief in den psychischen Haushalt eingreifende Lebenserfahrung.

Damit sich dieses kleine Wunder der Zweisprachigkeit ereignen kann, ist dieser  positive Nährboden notwendig. Auch in den zweisprachigen bürgerlichen Intellektuellenfamilien ist die Mehrsprachigkeit nicht immer gelungen, nur in den Fällen, in denen die Beziehungen zwischen den einzelnen Personen, wenn nicht durch Zuneigung, dann doch wenigstens durch Achtung des Anderen gekennzeichnet waren.

Auf der anderen Seite  gibt es Situationen, in denen man die Sprache des Anderen nicht lernt. Dann fehlen eben diese Wertschätzung des Anderen, die Zuneigung und Bewunderung. Ich mache nur einige Beispiele:

In Südtirol empfindet die italienisch sprechende Bevölkerung nicht das Bedürfnis, die Sprache der deutschsprachigen Nachbarn zu lernen, d.h. ihren Dialekt.

Die Studenten und Schüler in Italien mögen das Fach Deutsch als Fremdsprache meistens nicht, weil Deutsch die Sprache der Nazis war und in Erzählungen der Eltern und Großeltern, in den Lehrbüchern und in den Filmen die Deutschen meist nur als schreiende Nazis vorkommen.

Eine Sprache, auch wenn sie als nützlich angesehen wird, in einem solchen Kontext zu lernen, ist fast unmöglich und die Ergebnisse entsprechen in keiner Weise der aufgewendeten Mühe.

Wenn die Beziehung es nicht schafft, irgendwie in einem positiven Licht zu erscheinen, dann lernt man eine Sprache nur ganz schwer. Im Fall unserer ausländischen Kinder kann es ein Hindernis sein, dass die Kultur, zu der ein Kind gehört, nicht akzeptiert wird. Man denke nur an die ganze Terrorismusdebatte und die Verurteilung des Islam und an alles, was dazugehört. Wie kann ein Erwachsener, der zur Unterschicht gehört und islamischer Herkunft ist, sich da wohl fühlen und wie kann ein Kind in einer solchen Lage  ohne Probleme aufwachsen. Spießrutenlaufen ist noch ein gelinder Ausdruck für das, was diesen Kindern täglich begegnet.

Wenn also die einheimischen Kinder, die Erwachsenen und vor allem die LehrerIn  die Mutter des Kindes und den Vater, ihre Kultur und Herkunft nicht lieben,  dann kann das ausländische Kind kein Vertrauen zu ihnen auf bauen. Dann hat es aber auch den Kopf  nicht frei, um sich sorglos dem Lernen widmen zu können.

Was aber passiert in der Schule, wenn wir keine gute Beziehung zu der Mutter eines Kindes in unserer Klasse haben. Vielleicht gefällt uns das Kopftuch nicht, das sie aus religiösen Gründen trägt und auch nicht ihre Erziehung? Lehnen wir dann nicht gleichzeitig auch „das unsichtbare Wesen“ ab, das in jedem Kind steckt? Jeder Mensch besteht nämlich aus einem sichtbaren und einem unsichtbaren Teil, das ausländische Kind aber noch viel mehr aus diesem unsichtbaren. Alles das, was wir nicht kennen, ist für uns unsichtbar. Vielleicht sind wir nur noch nicht fähig, es zu sehen oder vielleicht wollen wir es auch nicht, weil wir nichts Gutes oder nichts Interessantes dabei erwarten. Wir treten mit der Anderen oder dem Anderen in Beziehung und glauben dabei, dass wir selbst diesen unsichtbaren Teil nicht haben, dass nur die AusländerIn dieses Fremde und Unbekannte besitzt. Dazu sagt Rosanna Cima: „Anfangs, als ich an die ausländischen Frauen dachte, fühlte ich mich sehr großzügig und glaubte, ihnen viel geben zu können… ich hatte den Eindruck viel mehr als sie zu haben: mehr Zeit, eine schönere Wohnung, mehr Geld, im festen Besitz einer Sprache zu sein…“[10] Erst viel später merkt sie dann, dass auch sie diejenige ist, die etwas empfängt und sie sagt: „Und vielleicht ist es nur dann, wenn man gegen etwas Anderes stößt, dass man bemerkt, dass man selbst aus ganz begrenzten Strukturen besteht. Es sind die Tiefenstrukturen, die uns geschaffen haben. Im Kontakt zu dem Anderen können wir ein Verständnis von uns selbst bekommen, wie wir es vorher noch niemals entdeckt hatten.“[11]

Auch wir, die Einheimischen, bestehen aus einem sichtbaren  und einem unsichtbaren Wesen, das wir oft selbst ignorieren. Die Geschichte unserer Abhängigkeit, die sich oft in einem Umkreis von wenigen Kilometern ereignet hat, müssen wir erst noch selbst schreiben. Vielleicht können wir sie zusammen mit unseren ausländischen Freundinnen schreiben und dabei Gemeinsamkeiten entdecken.

Vielleicht ist alles in der Figur unserer Mutter eingeschrieben und in unsere Muttersprache. Sie weiß Bescheid. Die Sprache weiß, wer wir sind. Aus Liebe zu uns bestehen wir.

 

Sprache der Mutter

Die Sprache der Mutter ist nicht nur eine Sprache, sondern der Stoff aus der sich unsere Existenz  zusammensetzt. Wir erlernen sie in den Nachtseiten unseres Lebens. Niemand erinnert sich daran, wie er sprechen gelernt hat, die ersten Wörter sagen konnte. Die Muttersprache lernen wir ohne unser Einverständnis, ohne unseren eigenen Willen, ohne Unabhängigkeit, ohne Bewusstsein, ohne Regeln, ohne Grammatik und ohne Übersetzungsmöglichkeiten. Gerade aus diesem Grund aber ist sie in den tiefen Bewusstseinschichten eingelagert, zu denen wir meist keinen Zugang haben. Sie zirkuliert im ganzen Körper, denn auch die Sinne und unsere Haut sind in diesen Kreislauf mit einbezogen. Sie fließt ein in unsere Träume und in die Kreativität unseres Handelns. Die Sprache der Mutter ist nicht nur eine Reihe von Wörtern, sie ist unser Fühlen, unsere Bewegungen und der Rhythmus unseres Atems, der Ausdruck des Gesichts, der Ton der Stimme, unsere Art zu lächeln, die Richtung unseres Blicks, der Druck unserer Hand. Die mütterliche Sprache besteht aus Geruch, Bildern, Bewegungen, einem Gefühl für Raum und Zeit, Nuancierungen der Stimme, Konzepte, Wegweisungen, Beziehungsstrukturen und auch grammatischen Mustern.[12] Diese Sprache lernen wir durch das, was man heute als „embodiment“ bezeichnet, wenn das Denken aus der Bewegung entsteht und aus den Sinneswahrnehmungen und das selbst noch gar nicht präsent ist. In diesem Augenblick entsteht eine unbewusste Erinnerung der Erfahrung. Es handelt sich um Lebenserfahrungen, die nicht nur durch Sprache vermittelt sind und ganz im Unbewussten bleiben.[13]

Wir erlernen diese Sprache schon im Mutterleib, wenn wir die durch das Fruchtwasser gefilterte Stimme erleben und wir schon in einen Dialog mit ihr eingetreten sind. In den westlichen Kulturen handelt es sich auch später noch um eine exklusive Beziehung zwischen Mutter und Kind, während die Kinder in den anderen Kulturen viel stärker in eine weibliche Genealogie einbezogen sind, wo Großmütter, Schwestern, größere Geschwister und Tanten eine oft ebenso wichtige Rolle wie die Mutter spielen. In einigen Kulturen ist sogar die Sprache der Mutter ganz anders als die des Vaters[14] und die Jungen müssen sie später lernen. Sie dürfen nicht mehr auf die Sprache der Frauen zurückgreifen. Ob auch unsere Männer diese Sprache der Mutter vermeiden müssen, wenn sie einmal im Erwachsenenleben stehen?

Unterschiedlich ist auch die Beziehung zur Mutter und zu ihrem Sprechen, wenn  sie das Kind auf dem Rücken trägt oder wenn es vor ihr auf dem Stuhl sitzt. In einem Fall handelt es sich um eine mehr körperliche Übertragung der Sprache und eine größere Einbettung in die Gemeinschaft, weil es über die Schultern der Mutter alles sieht und immer dabei ist, sozusagen durch sie hindurch spricht. Im Westen aber sind wir hauptsachlich auf eine dialogische Situation eingespielt.

Die Sprache kann keinesfalls auf Beziehungen verzichten. Sie definiert sich über sie: Sie ist gebunden an die Personen, an den individuellen Ort und die ganz konkrete Zeit unseres Lebens.

Die Sprache der Mutter hat die vorrangige Aufgabe, eine innere Sprache[15] zu schaffen. Unsere Herkunftssprache ist nämlich aus einer hörbaren und wahrnehmbaren in der Schrift erkennbaren Substanz und aus einer unsichtbaren und nicht leicht in Sprache oder Schrift übersetzbaren Substanz zusammengesetzt.

Was aber ist diese Innere Sprache? Es ist keine verbale Sprache, sondern eine Substanz, von der ich schon gesprochen habe. Sie entsteht in der Erfahrung und besteht auch weiterhin aus diesen verschiedenen Sinneseindrücken.

Nicht selten passiert es mir, dass ich etwas sagen möchte, ohne dafür die richtigen Worte zu finden, u.z. in keiner der von mir gebrauchten Sprachen, aber doch gibt es da etwas, was ich sagen will. Es handelt sich oft um ein Gefühl, von dem ich aber ein ziemlich klares Bewusstsein habe. Vielleicht empfinden Personen, die mehr Sprachen  sprechen, deutlicher die Existenz dieser inneren Sprache.

Die Muttersprache geht zum Teil in anderen Sprachen auf und verändert sich, aber ein Grossteil davon ist unvergänglich und in bestimmten Situationen fällt sie uns wieder ein, als wäre die Zeit überhaupt nicht vergangen. Sie scheint wie eine Systemdiskette unauslöschbar zu sein. Auch im Alter tauchen Sprachfetzen aus der Kindheit wieder auf.

Ein Kind, das diese innere Sprache nicht gelernt hat, oder nur sehr unvollständig, ist nicht lernfähig und kann auch keine anderen Sprachen lernen. In den Linguistikbüchern werden die bekannten Grenzfälle zitiert. Es handelt sich um Kinder, die in den ersten 12 Lebensjahren keine normale Sozialisation hatten, ein Beispiel ist Kaspar Hauser, aber auch Genny.

Die Sprache unserer Mutter[16] ist die beste Sprache, die wir lernen können, sie ist am umfassendsten und am tiefgehendsten. In einer Fremdsprache könnten wir dem Kind nie so nahe sein. Ganz im Gegenteil, der größte Teil der Emigranten, die versuchen, die fremde Landessprache zuhause zu sprechen, um den Kindern zu helfen, haben kein Bewusstsein davon, dass sie diese nie so gut wie ihre eigene Sprache sprechen  werden. Das, was nicht zum Ausdruck kommt, weil die Mutter nicht die Sprachkompetenz hat, um es in Worte zu fassen, bleibt verschollen. Viele Mütter werden in der Emigration aphasisch, wie Francine Rosenbaum[17] sagt. Sie sprechen immer weniger und die Beziehung zu ihren Kinder beginnt problematisch zu werden, weil die Sprache nicht mehr als Medium verwendet wird. Auch ihre eigene Muttersprache, da sie keine Gelegenheit mehr hat, sie zu sprechen, verarmt langsam.

 

Sprache der Erinnerung

Was aber passiert, wenn die Mutter nicht mehr ihre Sprache mit dem Kind spricht und versucht, in der neuen Landesprache zu sprechen? Pascal Mercier reflektiert in seinem Roman „Perlmanns Schweigen“ über das Thema der Muttersprache. Wenn durch die Sprache eine Erinnerung des Erfahrenen aufgebaut wird, dann entsteht durch die Sprache erst die Erinnerung und unsere eigene Vergangenheit ist zum Teil nichts anderes als das, was wir durch die  Sprache wieder ins Gedächnis zurückrufen können. Die Sprache schafft wie ein Bildhauer eine Form von uns selbst. Vielleicht hat Mercier allerdings einen recht negativen Begriff von Muttersprache. Er möchte sich eher aus dem Griff der Muttersprache, oder auch der Vatersprache in seinem Fall, befreien und einen eigenen Zugang zu der Welt bekommen. „Man kann es nicht oft genug betonen: Man wächst in die Welt hinein durch Nachplappern von Wörtern. Diese Wörter kommen nicht allein, wir hören sie als Teile von Urteilen, Sinnsprüchen, Sentenzen….“[18] Das, was unser notwendiger Anfang in Beziehung zu unserer Mutter und auch zu unserem Vater ist, nennt er „Sprachschutt“. Er träumt von einem solipsistischen Subjekt, das eine ganz eigene Kreativität entwickelt, kommt damit allerdings in große Schwierigkeiten, weil es das ja nicht geben kann. Wie von unserer Muttersprache werden wir immer von anderen Dingen abhängen, die uns geprägt haben. Die Muttersprache ist allerdings von anderer Qualität, sie schafft nicht nur Abhängigkeit, sondern sie gibt uns ein Mittel in die Hand, um damit weiterdenken und –fühlen zu können.

 

Wenn die Mutter aber nicht mehr die Sprache ihrer Herkunft spricht, dann wird sie vielleicht auch  nicht mehr die Geschichten von früher erzählen und die Lieder singen, die sie sonst gesungen hätte. Nicht weil sie es nicht will, sondern weil sie nichts mehr mit der derzeitigen Realität zu tun haben, aber vor allem, weil Erzählungen und  Lieder nicht durch Überlegungen ausgelöst werden, sondern eher unbewusst durch  andere Wörter, die in einer assoziativen Kette wieder lebendig und erzählbar werden, denn jedes Wort ist nur ein Schlüsselstein zu einer kleinen Erzählung, es ist die extreme Zusammenfassung von erlebten Episoden. Die Geschichten entstehen aus den Wörtern, wie die Wörter aus den Geschichten entstehen. Wenn aber die Mutter oder der Vater oder die Tante immer weniger erzählen, dann wird die Erinnerung dieses Kindes wie ein weißes Blatt sein. Der Herkunftsort wird nur noch ein Ortsname sein, u.z. ohne Substanz und ohne Leben. Aber da auch das neue Land ein Ort ohne Beziehungen und ohne Geschichten ist, wird dieses Kind zwischen zwei leeren Erinnerungen aufwachsen. Es fehlt die Verwurzelung in der Vergangenheit. In der Zukunft kann man sich aber nicht verankern. Daraus kann keine Sicherheit und kein Selbstwertgefühl entstehen, weil die Zukunft noch ein fast leerer Raum ist. Jeder Mensch braucht aber diese Verankerung im schon Erlebten, denn nur so entsteht ein Gefühl für Wirklichkeit. Sie ist erlebbar, konkret, schon genossen, wie eine feste Substanz, auch wenn sie Leidensgeschichten enthält, ist sie doch unser Eigentum, wichtig und gegenwärtig.

 

Bindung durch Sprache

In der Sprache kommt die Beziehung zu unserer Mutter zum Ausdruck. Die Sprache ist eine Kraft, die die Kinder wie in einem Magnetfeld hält. Die Sprache der Mutter ist das Gesetz und die Ethik, die die Beziehung einerseits zur Mutter und andererseits zur Welt regelt. Sich von dieser Abhängigkeit, die Sprache ist, befreien zu wollen, heißt sich von der Beziehung zur Mutter befreien. Sich über die Muttersprache schämen, heißt sich wegen der eigenen Mutter schämen.

Aber manchmal ist es die Mutter selbst, die sich der eigenen Herkunftssprache schämt. Manchmal ist es die neue Umwelt, die ihre Herkunftssprache diskriminiert. Vielleicht will sie selbst die eigene Sprache nicht mehr an ihre Kindern weitergeben. Dann entsteht eine Leere und ein belastendes sprachliches Erbe für die Kinder, manchmal eine psychische und geistige Verwirrung.

Die Mutter, die nicht mehr ihre eigene Sprache spricht, gibt dadurch einen Teil ihrer mütterlichen Potenz auf. Ihre Stimme ist nicht mehr so überzeugend und stark, weil ihr ihre ursprüngliche Energie fehlt. Und andererseits weil für alles das, was sie gerne erzählen würde, die Worte fehlen. Sie kann in der fremden Sprache keinen Spaß machen, keine Sprachspiele, die Stimme ausdrucksstark einsetzen, ausdrücken, dass es ihr tot ernst ist, wenn das Kind ihr nicht gehorcht. Gestik und Sprache verstärken sich nicht mehr gegenseitig, sondern fallen auseinander. Die Körpersprache steht nun im Gegensatz zur verbalen Sprache. Die ganze intensive Sphäre der Gefühle und Absichten, wie sie schon beschrieben wurden, fallen weg und bleiben im Hals stecken. Wenn jemand die Fremdsprache auch ganz gut gelernt hat, dann handelt es sich allerdings eher um die öffentliche Sprache, die je nach Milieu, ein auch oft sehr verarmter Jargon oder aber eine sehr gefühlslose öffentliche Sprache sein kann. Diesen Sprachregistern fehlt das, was wir die Muttersprache als Sprache des Herzens nennen. Darüber hinaus ist jede Fremdsprache strukturell viel ärmer als die eigene Muttersprache. Das gleiche gilt auch für die Konversationskompetenz, die in der eigenen Sprache mehr Modulationen zulässt. Nur zweisprachige Kinder erreichen ein genauso hohes Sprachniveau wie einsprachige Muttersprachler. Kinder die also nicht in ihrer Muttersprache groß werden, erhalten  nicht den gleichen sprachlichen,  mentalen und emotionalen Reichtum, wie die anderen Kinder. Manche müssen die Vergangenheit und die Erinnerungssplitter später mühsam aufarbeiten und neu zusammen setzen.

 

Sprachscham

Das Kind schämt sich seiner eigenen Muttersprache. Sie gehört ganz absolut in den intimen Bereich des Familienlebens. Die Kleinen wissen das sehr wohl, wenn sie eingeschult werden. Ganz plötzlich hören sie auf zu sprechen. Da sie noch über keine öffentliche Sprache verfügen, halten sie es für besser, ganz zu schweigen. Kinder aus gebildeten Familien haben manchmal schon eine solche Standardsprache zur Verfügung, aber Kinder aus ärmeren Familien oft nicht. Vielleicht sprechen sie zuhause nur ihren Dialekt, oder ihre Familiensprache oder eine andere Fremdsprache, die aber das Merkmal der absoluten Vertraulichkeit hat.

In der Schule, wenn sie dann die Standardsprache beherrschen, verschweigen sie, dass sie zuhause etwas anderes sprechen, weil sie schon wissen, dass alle anderen Varietäten irgendwie diskriminiert sind, jedenfalls einen geringeren Bildungswert haben. Sie schämen sich ihrer wie bei einem nackten Körper. Erst wenn sie ein Vertrauensverhältnis zum Lehrer oder zur Lehrerin, oder zu den SchulkameradInnen aufgebaut haben, bekommen sie den Mut zuzugeben, dass sie noch eine andere Sprache oder eine andere Sprachvarietät sprechen, dass sie noch eine andere Existenz  besitzen. Aber dazu gehört schon eine gute Beziehung. Dieses Kind muss auch sicher sein, dass seine Herkunft mit einem positiven Urteil belegt ist, sonst wäre das Risiko, ausgelacht  oder diskriminiert zu werden, zu groß. Viele SchülerInnen haben dieses Vertrauen noch nicht aufgebaut und sie trauen sich nicht, die Wahrheit zu erzählen. Was sie aber brauchten, wäre gerade diese starke Vertrauensbeziehung, denn dann könnte auch eine gemeinsame Sprache entstehen, die eine notwendige starke  Beziehung schafft und wiederum neues Vertrauen aufbaut. Wo das noch nicht gegeben ist, muss man vielleicht warten können, und zwar auf den Augenblick, in dem das erste Wort als Ausdruck des Vertrauens gesagt wird.

 

Verona, den 25.6.2007

(von der Autorin frei aus dem Italienischen übersetzt)

 

[1]              Dazu:  Corinna Belliveau, Simultaner bilingualer Spracherwerb unter entwicklungs- und kognitionspsychologischen Aspekten, Shaker Verlag, Aachen 2002.

 

[2]              Ausdruck der Mystikerin Mechthild von Magdeburg.

[3]              B.Bernstein, Classi sociali e sviluppo linguistico: una teoria dell’apprendimento sociale, in E.Cerquetti (a cura di), Sociologia dell’educazione, Milano, Angeli, 1969.

[4]              Vgl.: Alessandro Duranti, Linguistic Anthropology, Cambridge University press, 1997.

[5]              Renzo Titone, La personalità bilingue, Bompiani, Milano 1995

[6]              Renzo Titione, ivi p.37,

[7]              Jacqueline Amati Mehler, Simona Argentieri, Jorge Canestri, La babele dell’inconscio, Raffaello Cortina editore,

Milano 1990.

[8]              Traute Taeschner, The sun is feminin, Berlin, Springer Verlag, 1983.

[9]              Das gilt allerdings nur am Anfang und auch meist nur für einen der beiden Liebenden (meist die Mädchen), denn wenn man versucht, die Sprache später in der Ehe zu lernen, passiert das Gegenteil. Der Mann will von seiner Frau die Sprache nicht lernen, denn dann würde er wieder in eine Mutter-Kind-Beziehung zurückfallen. Die Frauen haben mit dieser Unterordnung keine Schwierigkeiten und lernen die Sprache meist sehr bald.

 

[10]            Rosanna Cima, Abitare le diversità, Carocci editore, Roma 2005, p. 35.

[11]            Rosannna Cima, ivi, p.48.

[12]            Dazu auch: Corinna Belliveau, Simultaner bilingualer Spracherwerb unter entwicklungs- und kognitionspsychologischen Aspekten, Shaker Verlag, Aachen 2002.

[13]            Vgl.: P. Kugler, L’alchimia delle parole, tr.it. di Luciano Perez, Bergamo, Moretti & Vitali Editori, 2002, pp. 24-25.

[14]            John Bradley, Man speak one way, women speak another, in: Jennifer Coat (edited by ), Language and Gender, Blackwell Publishers, Oxford UK 1998, pp. 13-20.

[15]            Die innere Sprache unterscheidet sich aber bei jedem von uns.

[16]            Natürlich geht es hier nicht nur um die leibliche Mutter. Meistens ist es die Mutter, aber es kann auch eine andere Person sein, die sich mit ebenso großer Hingabe dem Kind widmet.

[17]            Francine Rosenbaum, Approche transculturelle des troubles de la communication, Masson Editore, Paris 1997.

 

[18]            Pascal Mercier, Perlmanns Schweigen, Random House, München 1997, S. 186