diotimacomunità filosofica femminile

per amore del mondo Numero 3 - 2004

Pratica Filosofica

“Brief an Marianne und Raquel”  Nachwort zu Das zerstückelte Leben. Ein philosophischer Briefwechsel

 Ich glaube und schulde mir, zu glauben und schulde allen verschleierten Frauen der Erde, zu glauben, dass ich immer noch darauf bestehen muss, diesen magischen, entschleiernden Satz der Feuerprobe auszusprechen, „Ich bin eine Frau.“ Wann? So oft wie möglich und notwendig. Und vor allem dann, wenn ich beginne, ein neues Haus zu bauen oder ein neues Buch ins Leben zu rufen, mit den rituellen und ängstlichen ersten Schritten. Oder vor allem bei der ungeschickten, versuchsweisen Gründung einer zerbrechlichen, provisorischen Stadt, die ich lebendig, aber zitternd vor Schüchternheit aus dem Land meiner Phantasie herausziehe.

Vor allem bei der Schöpfung dieser ungewissen Gegend.

(Hélène Cixous, Das Buch von Promethea, S. 27)

 

 

 

Brief vom 4. November 2002

 

Liebe Marianne, liebe Raquel,

 

es gäbe so viele Anfänge für dieses Schreiben. Und es gibt so viele Anfänge. Es gibt sie ja schon lange. Und ich wünschte, eine würde in meinem Raum herumgehen und vom Boden oder vom Schreibtisch eines der vielen beschriebenen Blätter aufheben, sagen: diese Seite soll die Erste sein. So wie man eine Muschel am Strand aufhebt, oder einen Stein  mitnimmt und einer Freundin zeigt und sagt: Sieh, das habe ich mitgebracht. Aber wie viel müsste ich zeigen, und sagen: Seht, das habe ich mitgebracht. Vom Lesen. Vom Lesen Eures Briefwechsels. Da ist ein ganz eigener Strand gewachsen, und es wird immer Meer. Doch möchte ich mich von den Worten nicht überschwemmen lassen, obwohl es schon längst geschehen ist. Ich möchte auch immer wieder auftauchen und etwas sagen. Und auch das geschieht. Und mit welchem Text könnte es besser geschehen, darin aufzugehen, oder auch unterzutauchen, und wieder hervorzugehen, als mit diesem Text, der ein Ort ist.

Ein Ort, sich langsam gestaltend, in einem Hin und Her der Briefe. Eine geschriebene Bewegung, die geprägt ist von den Leben, den Geschichten und Räumen und ihrer Vielzahl. Ich mag die Verwobenheit des Erzählens aus dem Tag, der Situation des Schreibens und das aufeinander bezogene Nachdenken sehr. Die aufeinander bezogenen Briefe, und die Briefe, die sich auf die gegenwärtige Schreibsituation beziehen. Ich empfinde diese Haltung als eine sehr widerständige. Ein Seminar muss gehalten werden. Eine müsste Wäsche waschen oder aufhängen. Vielleicht etwas kochen und die Kinder müssen irgendwohin gebracht werden. Ein Vortrag geschrieben. Es müsste…, es ist gut, das alles zu tun, und es ist auch eine Gefahr. Ich habe manchmal mit angehaltenem Atem gelesen, mit welcher Deutlichkeit sich diese Gradwanderungen vollziehen, in Eurem Schreiben zwischen alledem. Und ich habe immer wieder gestaunt, wie sich genau daraus: aus der Haltung, diese gefährliche Wanderung aufzunehmen und wahrzunehmen und ihr in manchem zu widerstehen und sich doch ganz wieder auf sie einzulassen, wie daraus die ‚wichtigsten Fragen’ hervorgehen.

Und wie es eine Arbeit ist an den wichtigen Fragen. Ich vermeide gerne dieses Wort: wichtig. Oh, wichtig ist richtig. Aber: wichtig bei was, und wie? Und ich beziehe mich auf Irigaray, die im Speculum schreibt, dass jede Zeit eine Frage zu behandeln habe, nur eine, eine wichtige, zentrale Frage. Und die Frage unserer Zeit, so schreibt sie, sei die Frage der Differenz, der sexuellen Differenz. Und so wie ich sie lese, handelt es sich bei dieser Frage auch um eine Frage nach der Differenz unter Frauen. Und die Differenz, die immer mit den Ordnungen verknüpft ist, damit verknüpft, wie wir uns einrichten in der Welt, welche Plätze wir ‚finden’, weil sie so vor-geschrieben sind, und welche Plätze wir er/finden müssen, weil wir dort etwas finden, was sonst verloren ginge. Plätze, um zu lesen, weil sonst die Worte verloren gingen, und Plätze um zu schreiben. Und zu denken. Und dabei bleibt (?) es so oft ein Platz zwischen den Stühlen. Und zwischen den Orten, die sichtbar sind und symbolisch verankert. Die Orte im Haus und die Orte in der Institution. Die Orte in der Familie. Und die Orte, die eine dort ja auch immer: für sich hat, of one´s own…

Ich habe geschrieben: dabei ‚bleibt’ es so oft ein Platz zwischen den Stühlen, den eine Frau einnehmen/einrichten kann. Und habe gleich ein Frage-Zeichen setzen müssen. Ich glaube, und ich tue es vielleicht nicht nur (aber auch) auf eine naive, begeisterte Weise – vielleicht tue ich es aus meiner Situation, die eine andere ist, auch aus einer schmerzenden Erfahrung heraus. Ich glaube: der Ort ‚bleibt’ auf diese Weise nicht, der Ort ist bewegt, wenn es ein Ort ist, der im ‘Zwischen’ gedacht ist. Und die Stimme, sie bewegt sich, sie entsteht, sie wird gehört, sie ist immer auf einem Weg, sehr schnell, und langsam. Sie ist Sprechen. Sie spricht. Und es beginnt vielleicht immer alles mit der Sprache. Mit den Worten. Und wie sie entstehen können. Und wo.

 

„Deswegen denke ich, dass es eine p o l i t i s c h e Arbeit ist, und nicht nur eine literarische, die entsteht, sobald es gelingt, Bewegungen der Schrift von Frauen herzustellen, weit entfernt von Zensur, Lesung, Blick, männlicher Forderung, in der Kühnheit des Umherschweifens, des Risikos, das die Frau ertragen kann, wenn sie sich um Unbekannten suchen geht.“ (Hélène Cixous, Die unendliche Zirkulation des Begehrens, Merve Verlag Berlin 1977, S. 40)

 

Und die Konzentration auf die Frage nach dem Ort! Dabei ist es die besondere Überraschung/Freude beim Lesen zu erleben, wie diese Konzentration/Aufmerksamkeit geschieht: indem sie vervielfältigt wird, indem das Sehen, Wahrnehmen der eigenen Lebenssituation im Zeichen dieser Frage steht und sich so die vielen Zentren bilden, mehr als zwei, aber mindestens zwei, die diesen Ort möglich machen. Im Schreiben. Im Sprechen. Die Stimme braucht ein zweites: dass sie gehört wird.

 

Ich weiß nicht genau, inwieweit ein Brief eine passende Reaktion darauf sein kann, dass Ihr mir Euren Briefwechsel zum Lesen gegeben habt. Antwort sein kann. Oder einfach Ausdruck dessen ist, was es bedeutet, gelesen zu haben. Das bedeutet ja sehr viel, und viel mehr, als ich hier schreiben könnte.

Es haben sich so viele Gedanken und Fragen entlang des Lesens entwickelt. Und so viel Staunen auch. Über den Geschichtenreichtum. Es wurde auf einmal so klar, wie viel es zu fragen und sagen gibt, an diesem Ort, um den zwei sich schreibend bemühen, um den sie fürchten, weil es ein gefährdeter Ort ist, und ein Ort, den zwei feiern und immer wieder in Verbindung sind, zu diesem Ort. Ich finde es auch sehr spannend, das Schreiben und Sprechen, beide Praktiken der ‚Sprache’, mit dem Ort zu verbinden. Das ist nun eine Frage, ein Gedanke, den ich besonders wahrgenommen habe, auch vor einem/in einem Lektürehintergrund, in den Euer Wortwechsel so überaus gut passen will: ich habe mich seit einiger zeit mit der écriture féminine beschäftigt, besonders bin ich dann bei Hélène Cixous gelandet, die ich ja auch schon zitiert habe. Meine Beschäftigung sieht nicht so aus, wie eine ‚Bestandsaufnahme’ einer Strömung innerhalb der Feministischen Bewegung, die nun vorüber ist (wie manche meinen behaupten zu müssen, als sei eine solche Behauptung von besonderem Erkenntniswert). Ich sehe in dieser sehr produktiven Theoriebildung etwas, was nach wie vor, jenseits der Kategorie ‚aktuell’, inspirierend ist, für ein Arbeiten an und in der Differenz. Es gibt innerhalb dieser Tradition der écriture féminine den Gedanken der Differenz von ‚Sprechen’ und ‚Schreiben’. Den ich in ganz anderer – weiterführender Weise in Eurem Briefwechselprojekt, in diesem sehr besonderen Eurer Spracharbeit, sehe und finde.

Und mit der Frage nach dem Ort verknüpft finde. Es stellt sich für mich schon auch so dar, dass ich nicht spreche und schreibe, zur gleichen Zeit. Dass ich auch nicht alles spreche, was ich schreibe. Darin liegt auch ein Potential des Schreibens. Und es liegt darin vielleicht in besonderer Weise, was einen Briefwechsel angeht. Die Briefe, die zugleich Worte und Antworten sind, sind dann auch wieder Bild, ein Bild von klingender Stimme und ihrer Re sonanz. Und es ist sehr laut geschrieben auch eine Forderung: nach der Stimme der Frauen, dem Ort, der Stadt…

Und eine Gründung ist es, was Ihr schreibt. Was für eine Fundgrube! Aber dann gefällt mir nicht alles an diesem Wort ‚Grube’, zwar liegen in Gruben auch immer mal Schätze begraben, aber ausgegraben gehören sie ja und gefunden, geborgen zumindest oder zu allererst das. Ein Fund also, und eine Gründung. Und anknüpfend an das Eingangszitat aus dem Buch von Promethea möchte ich sagen: keine ‚provisorische’ Gründung und auch nicht ‚ungeschickt’ ist sie – sehr lebendig!

 

Ich habe für dieses Schreiben eine Weile gebraucht. Nicht um es zu beginnen. Von den vielen Anfängen habe ich ja berichtet. Aber um etwas herauszugreifen. Was vielleicht genau das ‚Falsche’ war. Ich weiß es nicht. Es ging auch etwas darum, nach dem Eintauchen in das Hin und Her der Briefe, der Leserin Zeit zu geben und der Schreiberin auch einen Ort, zwischen allem.

Es ist auch so, dass ich das Gefühl hatte, mich nicht in die Bewegung Eurer Briefe ‚einmischen’ zu wollen, wenn ich etwas schreibe, zu dem, was ich gelesen habe. Es ist etwas Beneidens-Wertes, in einem sehr positiven Sinn, und ich sollte schreiben: ich bewundere Euer Schreiben. Und ich möchte auch sagen, dass es das mehr/meer des Schreibens ist, dass der Ort doch – nicht ganz – verschwindet.

Liebe Grüße und vielen Dank!

Lilly